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Fachaufsatz

Wuchtige Differenzen

Ein extrem hoher Anteil der von der Firma Berlinwind untersuchten Windenergieanlagen weist eine Unwucht auf. Die Drehungen des Rotors sind also aus dem Gleichgewicht. Seit 2004 haben Mitarbeiter von Berlinwind nahezu 800 Rotorauswuchtungen und 750 Blattwinkelmessungen an rund 1.000 Anlagen vorgenommen. Die Auswertung dieser Maßnahmen zeigt: 45 Prozent der Turbinen haben eine den Grenzwert überschreitende Unwucht. Dabei wurde die im Januar aktualisierte Statistik um vorab auffällige Anlagen bereinigt.
Die Grenzwerte, ab wann die Drehungen eines Rotors als unwuchtig gelten, sind für jeden Anlagentyp in der Zertifizierung festgelegt. Sie dürfen in der gesamten Nutzungsdauer nie überschritten sein, sonst ermüden die erhöhten Unwuchtschwingungen das Material vorzeitig. Die Folge wären erhöhte Ausfallraten. Bei sehr großen Unwuchten kann die Nutzungsdauer stark verkürzt sein.
Dabei ist zu beachten, dass sich zwei unterschiedliche physikalische Unwuchtursachen überlagern, für die jeweils separate Grenzwerte gelten: Eine massenbedingte Unwucht aufgrund ungleicher Massenverteilung im Rotor. Sie führt zu schädlichen umlaufenden Fliehkräften und erhöht die Schwingungen. Die schwereren Rotorblätter ziehen dabei auf ihrer Umlaufbahn durch ihre größere Fliehkraft die Gondel bei jeder Umdrehung einmal nach links und einmal nach rechts.

Schwingungen durch Unwuchten

Eine aerodynamisch bedingte Unwucht zum Beispiel aufgrund von Blattwinkeldifferenzen, Unterschieden in den Blattverwindungen oder von Erosion. Diese Ursachen führen zu so genannten asymmetrisch umlaufenden aerodynamischen Kräften: Steht beispielsweise ein Rotorblatt leicht im falschen Winkel, müssen die anderen Rotorblätter es anschaulich gesprochen mitziehen. Die aerodynamisch bedingte Unwucht erhöht die Schwingungen – und sorgt wegen ungleichmäßig arbeitenden Rotorblättern für Ertragsausfälle.
Laut dieser Statistik hat von den Anlagen mit unzulässiger Unwucht jeweils ein Drittel eine reine Massenunwucht, ein Drittel leidet unter einer rein aerodynamischen Unwucht aus Blattwinkeldifferenzen. Und ein Drittel der fehlerhaften Rotorblätter ist durch eine kombinierte Unwucht belastet: Hierbei überlagern sich beide Probleme und deren Effekte. Dies wiederum führt zu Schwierigkeiten bei den Messungen. In solchen Fällen verfälschen die Kräfte aus der aerodynamischen Unwucht die Daten der massenbedingten Unwucht.
Weil sich die Unwuchtfehler auf die Lebensdauer der Komponenten und die Erträge auswirken, gilt aber auch: Durch periodisches Rotorauswuchten ließen sich die Stromgestehungskosten senken und die produzierte Strommenge erhöhen.
Mitunter kommunizieren Betriebsführer den Anlagenbesitzern, ein aufgetretener Getriebeschaden sei samt damit verbundener Stillstandszeiten unvermeidlich. Denn für Betriebsführer ist es oft deutlich schwieriger, die finanziellen Mittel für die Vermeidung von Stillstandszeiten durch präventives periodisches Rotorauswuchten bewilligt zu bekommen – auch, weil viele Schäden von der Versicherung oder durch den Vollwartungsvertrag gedeckt sind. Die eigentlich kostengünstigere Unwuchtmessung taucht hingegen später in der Bilanz der Betriebsführer als Zusatzkostenpunkt auf.
Andererseits gibt es durchaus schon Betreiber, die den Nutzen der periodischen Unwuchtprüfung schätzen. Sachverständige haben zudem erkannt, dass unzulässige Unwuchten per Schwingungsmessung schon bei Inbetriebnahme gefunden werden können, also wenn Schäden noch vermeidbar sind. Nicht überraschend ist es daher, dass der Bundesverband Windenergie (BWE) das Thema Rotorunwucht mitsamt zugehöriger Schwingungsmessung im Oktober 2012 auch in seine überarbeiteten Grundsätze der wiederkehrenden Anlagenzustandsprüfung aufgenommen hat.

Dynamische Wuchtung üblich

Die Rotoren fast sämtlicher Turbinenarten außerhalb der Windenergie – ob in Wasser-, Dampf- oder Gaskraftwerken sowie beispielsweise auch am Flugzeug – werden nach dem Zusammenbau auf jeden Fall dynamisch gewuchtet und meist auf Unwuchtschwingungen überwacht. Das heißt: Die Dienstleister schalten die Maschine ein – und während sie rotiert, messen sie die Schwingungen an ihr. Warum also sollte das Problem möglicher Unwuchten bei Windrotoren vernachlässigbar sein, zumal jedes Rotorblatt aufgrund des noch immer hohen Handarbeitsanteils in der Fertigung ein Unikat ist?
Die europäischen Auslegungsnormen und -richtlinien (IEC 61400-1, Richtlinie nach Germanischer Lloyd sowie des Deutschen Instituts für Bautechnik) fordern Grenzwerte und deren Berücksichtigung bereits in der Auslegungssimulation für die gesamte Lebensdauer. Denn neben den seltenen Extremlasten ist bei Windenergieanlagen die Materialermüdung durch die permanenten Betriebsschwingungen eben ein wesentliches Auslegungskriterium für das Design zum Beispiel eines Rotorblatts.
Schwachstelle der Richtlinien ist, dass zwar auf dem Papier in den Typenprüfungen meist das Einhalten der Unwuchtgrenzwerte gefordert ist, aber nirgends der Nachweis durch eine Messung an der realen Anlage, außer vielleicht am Prototyp. Eine unzulässige Unwucht ist somit ein unsichtbarer Mangel, da die reale Maschinenbelastung höher als in den Zertifizierungsberechnungen ist.
Anfangs unsichtbar sind diese Unwuchten auch, weil die übliche elektronische Zustandsüberwachung für die einzelnen Komponenten einer Windenergieanlage das Problem nicht erkennt. Diese Condition-Monitoring-Systeme (CMS) haben nämlich keine für die sehr niedrigen Drehfrequenzen unter 0,5 Hertz geeigneten Sensoren – geschweige denn eine geeignete Auswertungssoftware.
Zwar gibt es einige wenige Windenergieanlagenhersteller, die inzwischen Turmschwingungssensoren nicht nur für die Notabschaltung eingebaut haben. Sie sehen auch durch geeignete Software und Experten in ihrer Fernüberwachungszentrale, wenn sich größere Unwuchtprobleme etwa in Gestalt häufiger Abschaltungen zeigen. Die Hersteller benötigen dann aber Experten zur Ursachenfindung und Problemlösung. Ihr Zeitdruck ist groß: Schon die häufig auftretende moderate Grenzwertüberschreitung verursacht deutlich erhöhte Blattlasten sowie Vibrationen des gesamten Turm-Gondel-Systems, die an allen Komponenten der Windenergieanlagen rütteln. Das Ergebnis ist ein exponentieller Anstieg der Materialermüdung (Grafik Seite 58). Bei größeren Rotorunwuchten gibt es bereits nach kurzer Betriebszeit Risse im Maschinenträger und gar im Fundament. Ein Beispiel: Multimegawattanlagen mit vielleicht einem 60 Tonnen schweren Rotor haben nicht selten gravierende aerodynamische Unwuchten durch Blattwinkeldifferenzen bis sieben Grad. Die potenzielle Nutzungsdauer der gesamten Anlage verkürzt sich in solchen Extremfällen drastisch auf unter zehn Jahre. Das ergaben Messungen der Firma Berlinwind – und die anschließende Simulation eines Windturbinenherstellers: Der gab die Messwerte in ein Simulationsprogramm und rechnete damit die Lebensdauer einer konkreten Multimegawattwindturbine aus.

Drehfrequentes Erdbeben

Die Massenunwucht-Grenzwerte streuen in einem großen Bereich (Tabelle Seite 58). Sie streuen entsprechend den Vorgaben der Windradhersteller. Es kann also kein einzelner universaler Grenzwert angewendet werden. Rechnet man den Grenzwert in die gerade Strecke der Gondel-Schwingbewegungen um, so sieht man, dass allein die zulässige Massenunwucht bei einigen Anlagentypen ein lebenslanges drehfrequentes Erdbeben am Maschinenträger zur Folge hat – mit Bewegungen von bis zu einigen Zentimetern. Und das zehn bis 30 Millionen Mal in 20 Jahren.
Wenn die Unwucht das Zwei- bis Dreifache des Grenzwerts übersteigt, sind die materialseitigen Sicherheitsfaktoren für Ermüdung auch bei anderen Komponenten bald aufgebraucht. Das liegt teilweise weniger an den Komponenten als an Auslegungsspezifikationen, die den Komponentenzulieferern vorgegeben wurden. Wenn die erlaubten Unwuchtschwingungen nicht berücksichtigt werden, kann zum Beispiel beim Getriebe die Materialwandstärke nicht steif genug gewählt worden sein.
Daher sollten Rotor-Unwuchtmessungen generell Teil der Ursachensuche auch bei Komponentenschäden sein – anstatt wie häufig pauschal von einer Fehlkonstruktion zu sprechen oder es auf komplizierte Windverhältnisse zu schieben. Diese sind bei der schon aufgestellten Turbine ohnehin unabänderlich.
Doch selbst wenn die erlaubte Dimension der Unwucht beim Anlagenentwurf eingerechnet wird, ist das Phänomen noch lange nicht genügend berücksichtigt: Ein in der Auslegung, also im Design einer Anlage komplett vernachlässigter Fakt ist die betriebsbedingte Zunahme der Unwuchten: Durch Erosion, Wassereinlagerung, Blattreparaturen und mehr nehmen Massenunwuchten zu (Grafik Seite 58). Sind die Windturbinen nicht bei der Inbetriebnahme ausgewuchtet worden, verschleißen die Komponenten sogar notwendigerweise schneller als geplant. Bei aerodynamischen Unwuchten im Rotor kommt ein Weiteres hinzu: Blattwinkelmessungen zeigen, dass rund ein Drittel der Turbinen den Grenzwert von meist 0,5 Grad überschreitet, oft schon ab der Inbetriebnahme. Diese Art von Unwuchten bringt Ertragsverluste mit sich. Das ist in Vergleichen vor und nach Blattwinkeleinstellungen von Betreibern bestätigt worden. Oberhalb von 1,5 Grad Blattwinkeldifferenz können die Unwuchten schnell zehn Prozent des Jahresertrags ausmachen. Natürlich kann umgekehrt durch sorgfältige Blattwinkelneueinstellungen auch ein Mehrertrag erzielt werden.

Kosten- und Nutzen-Bewertung

Wirtschaftlich sinnvoll ist es, nur an den Windturbinen mit über die Grenzwerte hinausgehenden Unwuchten auch die komplette Auswucht-Messkampagne durchzuführen. Hingegen gibt es auch zuverlässige Verfahren zur Unwuchtprüfung mit nur einem Schwingungsmesslauf.
Doch wie lassen sich Kosten und Nutzen des Rotorauswuchtens im konkreten Fall bewerten und in die Windparkbilanzrechnung eintragen? Betrachtet man als Fallstudie einen Park mit 100 Windturbinen der Zwei-Megawatt-Klasse und die auf der europäischen Windmesse EWEA 2013 vorgestellte Unwuchtstatistik, rechnet man mögliche Ertragsausfälle durch Blattwinkelfehlstellungen bei zunehmender Unwucht gemäß dieser Statistik mit ein, so ergibt sich: Periodisches Auswuchten im Falle der dem Branchendurchschnitt entsprechenden 20-jährigen Laufzeit der Anlagen bringt mindestens 17 Millionen Euro geldwerten Vorteil. Dabei sind die Einnahmeverluste durch Turbinenstillstandszeiten für Reparaturen der aus Unwuchten entstandenen Schäden noch nicht eingerechnet. Die Kosten für die in 20 Jahren an allen 100 Anlagen benötigten periodischen Auswuchtprüfungen und -messungen liegen dabei unter einem Zwanzigstel dessen. (Dr. Christoph Heilmann,
Anke Grunwald, Michael Melsheimer, Berlinwind GmbH)
Dieser Beitrag erschien erstmals in der April-Ausgabe 2013 von ERNEUERBARE ENERGIEN - Das Magazin.