Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Weit, lang, hoch. Aber sicher!

Tilman Weber

Noch liest sich das neue Höhenziel von 199 Metern wie ein fernes Ereignis. Der dänische Weltmarktführer der Windturbinenhersteller Vestas und das Turmbauunternehmen Max Bögl hatten auf der Hamburger Windenergiemesse im September 2022 angekündigt, einen Beton- und Stahl-Hybrid-Turm für diese Nabenhöhe zu entwickeln. Maximal so weit über dem Boden wollen die Partner den Rotor mit 172 Meter Durchmesser des künftig leistungsstärksten Vestas-Modells V172 für Windparks an Land mit 7,2 Megawatt (MW) Nennleistung positionieren, um von den dort noch besseren Windströmungen zu profitieren. Das ist 20 Meter höher, als es Wettbewerbsunternehmen Nordex für seine Neuentwicklung N175 vorsieht. Und es ist sogar 30 Meter mehr als bei den neuen Standardturmgrößen der zuletzt errichteten höchsten Windenergieanlagen.

In solchen Türmen werden Monteure und Servicekräfte künftig bis zu neun oder zehn Minuten lang im engen Lift der Windenergieanlage bis nach oben unterwegs sein. Sollte eine Störung den Fahrstuhl blockieren, würde der Aufstieg über eine Leiter je nach Verschnaufpausen 35 Minuten oder mehr in Anspruch nehmen. Wären weitere Lasten wie schwere Werkzeuge oder kleinere Bauteile mit hochzubringen, würde es entsprechend ein wenig länger fürs ordentliche Verstauen im sehr engen Lift dauern. Für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitenden braucht es da gute Ausrüstungen zum Hoch- und Runterbringen von Mensch und Material durch die immer längeren Turmpassagen. Zunehmender Aufstieg und auch längere Anfahrtswege zu immer häufiger auch auf Bergen oder weit in der See gelegenen Offshore-Windparks erfordern zudem aktuelle Sicherheitsschulungen.

Neue Seiltechnik für das zeitgleiche Abseilen auch von zwei Mitarbeitern mitsamt Werkzeug

Foto: SHE-Solution

Neue Seiltechnik für das zeitgleiche Abseilen auch von zwei Mitarbeitern mitsamt Werkzeug

Spektakuläre Innovationen benötigen die auf- und absteigenden Servicekräfte nicht. Dafür liefern einige der Sicherheit und Aufstieg fördernden Unternehmen sehr hilfreiche und spannende Verbesserungen im Detail an.

Zum Beispiel SHE-Solution: Das 2006 gegründete Unternehmen im nordrhein-westfälischen Enger bei Bielefeld entwickelt und liefert Rettungs- und Sicherungssysteme wie zum Beispiel Seiltechnik oder auch sogenannte Persönliche Schutzausrüstung vom Helm und Gehörschutz bis zum Gurt und Karabinerhaken. Und sie bieten Sicherheitstrainings an. 2020 präsentierten die Ostwestfalen ihre „Extreme Class“ getaufte Produktreihe, die nach europäischen Normen zertifiziert ist und erstmals das Abseilen von Lasten bis 280 Kilogramm bis zu einer Höhe von 300 Metern erlaubt (siehe auch Advertorial auf Seite 29). Es verhilft zur zeitgleichen Rettung von zwei Monteuren zum Beispiel bei einem Brand aus dem Windturbinen-Maschinenhaus. Bisher ließ Abseiltechnik zwar schon das Lebendgewicht zweier ausgewachsener trainierter Männer zu, bei Lastobergrenzen bis 200 oder ein wenig mehr Kilo. Doch sobald die Männer noch Werkzeug am Leib hatten, hätte im Ernstfall bei zwei Personen vorab jede Person ihr Gewicht im Wortsinn nochmals auf die Waage stellen müssen: theoretisch handhabbar, aber völlig unpraktikabel. Nun können zwei Männer zugleich mit der europaweit geregelten Abseilgeschwindigkeit von 0,7 Metern pro Sekunde runter. Bei den höchsten heutigen Anlagen ist das Duo nach rund vier Minuten demnach am Boden – und sofort aus dem rauchgefüllten Maschinenhaus raus.

Als technische Herausforderung der Entwicklung gilt das reibungslose Zusammenwirken von Fliehkraftbremse, Seilscheibe und Zahnrad. Die Konstruktion zur Seilführung darf selbst nicht groß ausfallen, um den Aufstieg mit dem Rettungsgerät nicht mit zu viel Masse zu erschweren. Und sie darf unter der höheren Last nicht heiß laufen.

Bestimmungen, Standards und Normen bestimmen weitgehend, was wie schnell und wie viel in den Windturbinen auf- und absteigen darf. Die Vorgaben stammen von Instituten wie dem TÜV, dem Germanischen Lloyd, dem Europäischen Komitee für Normung oder dem Deutschen Institut für Normierung, also dem DIN, sowie speziell für Sicherheitstrainings der Windkraftorganisation GWO und der Unfallversicherungsgesellschaft DGUV. Wichtig beispielsweise für Seiltechnik sind die Europanormen EN 341 und EN 1496, bei der Absicherung mit Fallschutzläufern für Aufsteigende auf der Leiter zählt die mehrmals reformierte EN 353.

In den eng gesteckten Normen bringen die Innovationen im Detail aber viel. Die in der Auf- und Abstiegstechnik-Szene gehandelten Stichworte, um ihren Wert zu erklären, heißen Sicherheit, Aufwand und Ergonomie.

Akku-Aggregat für Schrauben

Foto: PLARAD - Maschinenfabrik Wagner

Akku-Aggregat für Schrauben

Häufig führt eine Innovation zu einer Verbesserung in allen drei Nutzwerten. Das gilt für das vom Schraubtechnik-Anbieter Plarad für das zweite Quartal 2023 angekündigte Werkzeug, mit dem Monteure künftig ohne Strom ihre hydraulischen Schrauber in den entlegensten Komponenten der Anlage betreiben können (siehe auch Advertorial Seite 29). Die Entwicklungsabteilung des 150-Mitarbeiter-Unternehmens aus dem Siegerland-Ort Much will mit dem Akku-Aggregat nicht nur das Mitschleppen des Stromkabels abschaffen, sondern auch das Gewicht des Aggregats drastisch reduzieren. Damit entfällt das Kabel als Stolperfalle. Die Monteure müssen keine enormen Kabelmassen mehr in die Lifte wuchten oder an der Wartungsstelle zurechtrücken, die sonst die oft enorm langen Stromzuleitungen verursachen. Ebenfalls spielen im Ausland unterschiedliche Stromfrequenzen keine Rolle mehr.

Die Plarad-Leute bewerben die Markteinführung als „Weltneuheit“ und „ungeheure Erleichterung“. Fest steht, dass das Aggregat mit einer Akkuladung genug hydraulischen Druck für im Durchschnitt jeweils 170 Verschraubungen erzeugen wird. Mit zehn Kilogramm wird das Aggregat inklusive Akku gemäß der Ankündigung um drei bis vier Mal leichter als die bisherigen Aggregate für Hydraulik. Gewinne bei Sicherheit und Aufwand liegen auf der Hand. Der Ergonomie, was vereinfacht erklärt die gute Körperhaltung des Menschen bei sportlichen Bewegungsabläufen ohne äußere Belastungen ist, dient das neue Zubehör auch. Denn die Monteure können sich nun mehr auf ihre beste Haltung fürs Schrauben konzentrieren und belasten ihre Rücken beim Transport des Schraubersets weniger.

Weitere Innovationen für Ergonomie und weniger Aufwand erreichen die Zulieferer auch durch den Einbau von Messtechnik in ihr Werkzeug und „eine durchgängige maschinelle Dokumentation in den Montageprozessen“, wie es bei Plarad heißt. Das lässt die Arbeitenden genauer hantieren, ohne unnötig Konzentration für das Berichten über die Wartungen zu verbrauchen.

Zentral für die Sicherheit auf den Anlagen bleiben die nach GWO und DGUV standardisierten Sicherheitsschulungen. Ohne sie dürfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Servicefirmen oder Windparkbetreibern nicht hinauf.

Längst haben erfahrene Trainingsfirmen ein fein austariertes System der Vermittlung von Wissen, Erfahrung und zugleich der Wahrnehmung von Gefahrenlagen entwickelt. Sie nutzen ein breites Angebot an Kursformen, die auf Bedarfe der Windparkbetreiber und Servicedienstleister zugeschnitten sind und bis zu aufwendigen Simulationen von Bedrohungssituationen unter Feuer, in den Wellen und unter Wasser reichen.

Die 20 Lehrkräfte bei Offtec in Enge-Sande vermitteln außer den GWO/DGUV-Sicherheitslektionen auch Offshore-Realsituationen wie das Absinken eines notgewasserten Hubschraubers, das Springen von der Turbinenanlandeplattform oder das Treiben auf der Rettungsinsel bei hohen Wellen (siehe Interview Seite 31). Darüber hinaus moderieren die Ausbildenden den Erfahrungsaustausch über den Umgang mit den nicht seltenen Störungen an Befahranlagen, den Liften der Windturbinen, die Ausbildungschef Dirk Carstensen deshalb „Gefahranlagen“ nennt und die in den zunehmend flexibleren Türmen stärkeren Vibrationen ausgesetzt sind.

Die Ausbilder des nordfriesischen Bildungsstandorts bedienen den wachsenden Bedarf an Servicekräften, die mit Stresssituationen in den äußerst hohen Bauwerken umgehen können, mit jährlich 700 Kursen. Manche der Kurse in Enge-Sande lassen sich kurzfristig noch Wochen oder gar Tage im Voraus buchen, dank eines transparenten, übersichtlichen Ampelsystems zur Anmeldung im Internet. Kurse für die besonders begehrten Elektrotechniker sind bis zu einem Jahr im Voraus ausgebucht. Im Rahmen von Kooperationen bietet Offtec für Offshore-Unternehmen allerdings auch eine ganz spezielle Dienstleistung an: In einem Ausnahmefall half auch schon mal ein Trainer einem Kunden bei einem Offshore-Einsatz direkt aus.

Auch das internationale Schulungsunternehmen Rely on Nutec mit Hauptsitz in Dänemark sowie einem deutschen Schulungszentrum in Bremerhaven verbucht enorme Nachfrage. Rund 10.000 Teilnehmende unterrichten die 44 Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigten sowie mehr als 40 Freiberufler im Jahresverlauf in den Sicherheitstrainings. Überwiegend sind es Servicekräfte, die in Bremerhaven ihre Kenntnisse über das richtige Sicherheitsverhalten oder Rettungschancen erneuern. „Refresher“ heißen diese hier. Zunehmend häufiger kommen zudem neu eingestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Quereinsteigende aus anderen wirtschaftlichen oder technischen Branchen (siehe Interview Seite 32).

Der steigende Bedarf an Sicherheitsausbildung für Neulinge und Quereinsteiger zeigt sich bei Rely on Nutec in der immer häufigeren Wahl von Grundkursen, die hier „Basic Technical Trainings“ heißen. Diese sollen lehren, „grundlegende hydraulische, mechanische und elektrische Aufgaben unter Aufsicht eines erfahrenden Technikers auszuführen“. Bei den Geschulten wollen die Ausbilder ein Bewusstsein für die Gefahren bei der Arbeit an eben hydraulischen, mechanischen und elektrischen Geräten ausbilden. Auch wie die Gefahren zu kontrollieren sind, bringt der Kurs bei. Weiteres zunehmend gefragtes Training ist das neue Modul „Control of Hazardous Energies“ – zu Deutsch: Kontrolle gefährlicher Energien –, das fokussiert das Bewusstsein für ebendiese Gefahren schärft.

An der Aufstiegstechnik selbst hat die Branche offenbar in vergangenen Jahren nicht viel geändert. Das beobachtet jedenfalls Offtec-Chefausbilder Dirk Carstensen. Entsprechend nähmen die erforderlichen Zeiten für die längeren Wege zu. Tatsächlich begrenzen die Sicherheitsstandards die Liftgeschwindigkeiten. Schneller als 18 Meter pro Minute fahren die Servicelifte in Europa nicht.

Das Schweizer Aufstiegstechnikunternehmen Highstep Systems entwickelt seit 2007 ein System, das auf klassische Lifte verzichtet. Die Monteure steigen entlang einer Schiene in Steigschuhen auf, die einen aufrechten Gang mit individueller Schritthöhe ohne Sprossen ermöglicht. Die Bewegung ist ergonomisch, auch weil sich die Servicemitarbeitenden keine Knie anstoßen können (siehe Interview links, Seite 34). Als Alternative liefern sie auch eine batteriebetriebene Plattform als mobilen Servicelift, der entlang einer solchen Schiene mit 0,4 Meter pro Sekunde und damit 24 Meter pro Minute hoch- und runterfährt.

Bisher kommt das System hauptsächlich an Gittermasttürmen von Stromleitungen zum Einsatz, an denen geschlossene Lifte sich nicht eignen. Höchster von Highstep System bestückter Turm war bisher ein 300 Meter hohes Bauwerk in Brasilien. In Deutschland belieferten die Schweizer 2022 außerdem die Prototypanlage von Agile Windpower in Grevenbroich: ein horizontal um den Turm drehender Rotor mit vertikal um den Turm stehenden Rotorblättern auf einem Gittermastturm. Außerdem bestücken die Schweizer die Ein-Megawatt-Turbinen des Südtiroler Herstellers Leitwind, in deren Türmen für klassische Lifte kein Platz wäre.

Der Sicherheit wäre angesichts der zunehmend flexibleren Strukturen der Türme mit dem High­step-Systems-System ebenfalls gedient. Dessen zeigt sich Geschäftsführer Alexander Luft überzeugt. So sind die Aufsteigenden beim reinen fußbetriebenen Aufstieg – den das Unternehmen „manuell“ nennt – dreifach gesichert: mit dem Fallschutzläufer vom Gurt des Monteurs zur Schiene und rechts und links der Schiene mit den angeschnallten Füßen. Beim automatischen Liftaufstieg sichert der Fallschutzläufer den Stand auf der Plattform ab.

Beteiligte Firmen dieses Themen-Specials:

Highstep-Systems
+41(0)44/371-4433

Offtec
04662/89127-0

Plarad – Maschinenfabrik-Wagner
02245/62-0

Relyon-Nutec
0471/97319002
0471/4834360

SHE-Solution
05224/939385-0

Tags