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Die Sinuskurve pflegen und Frequenzsprünge vermeiden

Nicole Weinhold

Wir starten mit 550 Terawattstunden und enden mit 1.000 bis 1.100 TWh“, erklärte Thomas Dederichs die im aktuellen Entwurf des Netzentwicklungsplans prognostizierte Zunahme des Regenerativstrombedarfs bis 2045 während einer Onlinetagung Ende Januar. Der Leiter Energiepolitik bei der Amprion GmbH verwies dabei auf den wichtigen Aspekt der Versorgungssicherheit. „Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“ Im Moment gebe es fast täglich Abweichungen im Netz, etwa Frequenzsprünge. Früher sei das nur alle paar Jahre vorgekommen. „Wir begeben uns hier auf unbekanntes Terrain. Deutschland geht einen Sonderweg“, sagte Dederichs mit Blick auf Atom- und Kohleausstieg. Großkraftwerke sorgen mit ihren Synchrongeneratoren für Stabilität im Stromnetz, werden aber im Zuge der Energiewende sukzessive abgeschaltet. Um diesem Problem zu begegnen, beschäftigen sich Forschende am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE damit, wie durch netzbildende Wechselrichter auch in Zukunft eine zuverlässige Versorgung mit sinusförmigem Wechselstrom und stabiler Netzfrequenz gewährleistet werden kann.

„Wir müssen eigentlich heute beginnen, netzbildende Wechselrichter (NBWR) zu installieren, wenn 2030 die Synchrongeneratoren wegfallen sollen“, sagte Sönke Rogalla, Leiter der Abteilung Leistungselektronik und Netzintegration am Fraunhofer ISE, während der Tagung. Er hat maßgeblich am Forschungsprojekt Verbundnetz Stabil mitgearbeitet, das Mitte 2021 abgeschlossen wurde.

Das Projekt hat sich mit dem Aufrechterhalten eines stabilen Verbundsystemverhaltens bei hoher Durchdringung mit Umrichtern beschäftigt. Mit dem fortschreitenden Ausbau der erneuerbaren Energien und der Integration von elektrischen Speichern wandeln sich die technologischen Grundlagen der Netztechnik fundamental.

Sinuskurvenförmige Wechselspannung

Idealerweise hat der Strom, der durch die elektrischen Leitungen Europas fließt, eine sinusförmige Wechselspannung mit einer annähernd gleichbleibenden Frequenz von 50 Hertz. Ermöglicht wird diese Stabilität durch die physikalischen Eigenschaften von Synchrongeneratoren großer Kraftwerke. Diese bringen über ihre rotierende Masse Trägheit und damit die sogenannte Momentanreserve ins System. Etwaige Erzeugungsdefizite können sie über die gespeicherte kinetische Energie kurzfristig ausgleichen und so die Zeit überbrücken, bis weitere Schutzmaßnahmen wie die Bereitstellung von Regelreserven aktiviert werden. So kommt es auch in kritischen Situationen, wie beispielsweise dem ungeplanten Ausfall großer Erzeugungsleistungen oder dem Zerfall des Netzes in Netzteile, einem sogenannten System Split, nicht sofort zu flächendeckenden Stromausfällen. Sönke Rogalla und sein Forschungsteam sehen in netzbildenden Wechselrichtern eine erfolgversprechende Alternative, um die Netzstabilität zu erhalten.

Forschungsprojekt Verbundnetz Stabil

Im Rahmen des Forschungsprojektes Verbundnetz Stabil haben die Partner Kaco New Energy, Transnet BW, Universität Stuttgart und Fraunhofer ISE in den letzten vier Jahren die Stabilität von Verbundnetzen mit hohem Wechselrichter-Anteil untersucht, ein spannungseinprägendes Regelungskonzept entwickelt und dabei relevante Fortschritte bei der Netzregelung mittels NBWR erzielt. Im Labor konnten die Forschenden dann ein Stromnetz im Kleinen nachbauen und dort untersuchen, wie sich der Anteil von Synchronmaschinen und netzbildenden Wechselrichtern sowie die implementierten Regelungen in verschiedenen Störszenarien auf die Spannungsstabilität auswirkten. Mit den Ergebnissen sind die Forscher zufrieden. „Unsere Untersuchungen zeigen noch einmal deutlich, dass eine Umstellung von Synchrongeneratoren auf netzbildende Wechselrichter funktioniert und auch immer dringender wird“, betont Roland Singer, Gruppenleiter Stromrichterbasierte Netze. Fest steht aber auch: Bei der Integration von netzbildenden Wechselrichtern in das Stromversorgungssystem ist es nicht damit getan die Regelung des Wechselrichters von einem stromeinprägenden auf ein spannungseinprägendes Regelkonzept umzustellen. Vielmehr müssen alle Aspekte der Dynamik eines Verbundnetzes berücksichtigt werden, um ein geeignetes Verhalten von NBWR festzulegen. Nur so können die netzbildenden und netzstabilisierenden Eigenschaften von Synchrongeneratoren umfassend durch NBWR ersetzt werden.

Auch Amprion arbeitet an Lösungen. Der Übertragungsnetzbetreiber hat umfangreiche Studien und technische Analysen des modularen statisch-synchronen Serien-Kompensators (mSSSC) der US-Firma Smart Wires gemacht. Deren Technologie Smart Valve soll dazu beitragen, Leitungen im Netz gleichmäßiger und besser auszulasten und trägt damit zur Systemstabilität bei. „Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass Smart Valve eine innovative Technik ist, die Potenzial hat, das Netz effizienter zu nutzen und den Bedarf an Redispatch in der Zukunft zu senken“, sagt Hendrik Neumann, technischer Geschäftsführer von Amprion. Der Smart Valve kann durch gezielte Lastflussänderungen (Bremsen oder Ziehen) die Leitungen optimal auslasten. So lässt sich das Übertragungsnetz besser steuern und auch der teure Einsatz von Kraftwerken zur Überbrückung von Netzengpässen minimieren. Die Smart Valves sind einzelne Module, die zu größeren Anlagen je nach Bedarf zusammengesetzt werden können. Damit ergänzt die neue Technologie herkömmliche, große und schwere Phasenschiebertransformatoren (PST) und eröffnet neue Anwendungsfelder.

Projekt Netzregelung 2.0

Walter Schittek, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Kassel, arbeitet am Projekt Netzregelung 2.0 mit. Er sieht in dem Zusammenhang mit der Netzstabilität ungenutzte Potenziale bei Wärmepumpen, Kühlung, Wärme, Antrieb, Pumpen und mehr. Auch in diesem Forschungsprojekt untersuchen Institute, Hersteller, Netzbetreiber, das Forum Netztechnik/Netzbetrieb im VDE, und weitere Partner, unter welchen Bedingungen bei einer sehr hohen Einspeisung durch Stromrichter ein sicherer und stabiler Netz­betrieb gewährleistet ist und insbesondere Stromrichter netzbildende Funktionen übernehmen können.

Die Idee: Eine virtuelle Synchronmaschine könnte nun Momentanreserven ermöglichen. Die Modifikation zukünftiger Stromrichter von Erzeugung, Speichern und unterschiedlichen Arten von Lasten, mit Schwerpunkt auf Ladesystemen elektrischer Fahrzeuge, könnte bislang ungenutzte Poten-
ziale heben. Erhöhter Aufwand (z.B. zusätzliche Speicher, erhöhte Stromtragfähigkeit der Halbleiter) für die Bereitstellung symmetrischer Beiträge könnte in erheblichem Umfang eingespart werden.

Was das Thema Versorgungssicherheit anbelangt, sieht Volker Quaschning, Professor für erneuerbare Energien an der HTW Berlin, allerdings die Herausforderungen noch an einer anderen Stelle. Fehlende Momentanreserven und Schwarzstartfähigkeit seien die kleineren Probleme: „2030 – das ist ja nicht lange hin – wollen wir 200 Gigawatt Photovoltaik am Netz haben. Wenn die Anlagen alle laufen, werden wir im Frühjahr Tage sehen, an denen bis zu 140 Gigawatt ins Netz wollen. Heute liegt der maximale Verbrauch an sonnigen Tagen in Deutschland bei 70 bis 80 Gigawatt. Was machen wir also mit den übrigen 70 Gigawatt? Schmeißen wir die weg? Um das zu verhindern, brauchen wir einen ganzen Blumenstrauß an Maßnahmen. Wir müssen dafür sorgen, dass Elektroautos künftig geladen werden, wenn die Sonne scheint. Das muss gesteuert werden. Und wir brauchen neue Speicher am Netz.“ Auch dafür müsse wahnsinnig viel passieren. „Das heißt, wir brauchen eigentlich in den nächsten vier Jahren einen Totalumbau des kompletten Netzsystems und auch des Denkens im Netz. Das wird eine riesige Herausforderung. Wenn die Regierung das nicht einplant, werden wir die Ausbauziele nicht erreichen. Wir brauchen nicht über eine Erhöhung der Klimaschutzziele reden, wenn wir schon bei 100 Gigawatt PV steckenbleiben.“

Anschluss eines Wechselrichters für den Aufbau eines Microgrids im Labor.

Foto: Fraunhofer ISE

Anschluss eines Wechselrichters für den Aufbau eines Microgrids im Labor.

Verbrauch lenken über Preissignale

Technisch scheint die Branche derweil erst im Versuchsstadium zu sein. „Die Rahmenbedingungen haben bisher kaum Anreize für die nötigen Veränderungen gegeben. Jetzt müssen die Rahmenbedingungen schnellstens angepasst werden. Die Frage ist, wie wir die 200 Gigawatt Photovoltaik an den Start kriegen. Wenn wir für den Sommer sehr viele Speicher bauen, wird das relativ teuer. Gleichzeitig werden wir die Elektromobilität hochfahren.“ Daher sei es sinnvoll, so Quaschning, die Netze vor allem über gesteuertes Laden zu entlasten. Alle Elektroautofahrer:innen müssten dazu möglichst mittags laden. „Das klappt eigentlich nur über Preissignale – indem also die Börsenstrompreise bis zum Endkunden durchgeleitet werden. Über Schwarzstartfähigkeit mache ich mir keine großen Sorgen: Da installiert man ein paar tausend Batteriespeicher, die die entsprechenden Fähigkeiten haben. Die Speicher brauchen wir ja sowieso“, so Quaschning.

Damit die Netzstabilität also in den nächsten Jahren erhalten bleibt und damit die Netze auch in der Lage sind, den wachsenden Anteil an Regenerativstrom aufzunehmen, bedarf es der Anreize. Hier muss die Regierung zügig die entsprechende Basis schaffen.

Mittelspannungsschaltanlage für Test- und Forschungsanlage am Zentrum für Leistungselektronik und nachhaltige Netze des Fraunhofer ISE.

Foto: Fraunhofer ISE/Dirk Mahler

Mittelspannungsschaltanlage für Test- und Forschungsanlage am Zentrum für Leistungselektronik und nachhaltige Netze des Fraunhofer ISE.

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