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Alles unter Kontrolle

Sie gehört zu den größten Onshore-Turbinen in Deutschland: Im fränkischen Winnberg ragt die neue Repower-Anlage 143 Meter in die Höhe, der Rotor pflügt mit einem Durchmesser von 114 Metern durch die Luft. Macht insgesamt rund 200 Meter Höhe. Nennleistung der Anlage: 3,2 Megawatt. Seit Juli vergangenen Jahres speist sie Strom ins Netz ein.

„Mit jedem Meter über einer Nabenhöhe von hundert Metern erreichen wir eine um ein Prozent verbesserte Energieausbeute“, begründet Repower-Technologievorstand Matthias Schubert das Streben in die Höhe. An manchen Standorten in Deutschland gelten demgegenüber noch Höhenbegrenzungen von 100 Metern bis zur Flügelspitze.

Doch das Streben in neue Sphären birgt Risiken. Denn je größer eine Anlage, desto stärker die entstehenden Lasten und damit auch der Verschleiß. Ein Ausfall würde die Betreiber teuer zu stehen kommen. Ein Anlagenstillstand könnte Einnahmeausfälle von täglich bis zu 7.000 Euro bedeuten. Die Maschine selbst bindet ein Investitionsvolumen von rund drei Millionen Euro. Kein Wunder also, dass Eigner, Investoren, Banken und Versicherungen hohe Ansprüche an die Sicherheit einer Anlage stellen. Sie wollen genau wissen, ob die erforderlichen Standards eingehalten wurden. Das sind Normen und Richtlinien des Deutschen Instituts für Bautechnik (DIBT), der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC) und der Fördergesellschaft Windenergie (FGW).

Kein Verkauf ohne Typenzertifikat

Im Jahr 2009 trat die Systemdienstleistungsverordnung (SDL) Windenergie in Kraft. Sie schreibt unter anderem vor, Spannungskurven auf den Bedarf des Netzes anzupassen. Auch darauf beziehen sich die Prüfungen. „Seit gut drei Jahren lassen alle namhaften Hersteller ihre Anlagen zertifizieren“, sagt Martin Webhofer, Leiter der Zertifizierungsstelle Windenergieanlagen des Tüv Süd Industrie Service.

Ohne Zertifikat geht bei den Systemdienstleistungen nichts mehr. Nicht nur deshalb entwickelt sich das Geschäft mit der Zertifizierung unablässig positiv. „Die Anzahl der Hersteller hat in den vergangenen Jahren deutlich zugelegt. Viele internationale Märkte wachsen“, sagt Mike Wöbbeking, Leiter der Zertifizierungsstelle beim Germanischen Lloyd (GL). Neben GL und Tüv Süd bearbeiten unter anderem Bureau Veritas, Tüv Nord, Tüv Rheinland und das norwegische Unternehmen DNV den deutschen Markt (Kasten Seite 41). International teilen sich knapp 15 Unternehmen den Markt.

Nicht jeder Kunde ist glücklich über das umfangreiche Zertifizierungsangebot, das heute auf eine neue Anlage wartet. Rainer Leskien, Zertifizierungsexperte beim Rostocker Hersteller Eno, sagt: „Wir sind den Zertifizierern ein Stück weit ausgeliefert.“ Auf 800.000 Euro beziffert er den Durchschnittspreis für eine Typenzertifizierung. Auch Preise von mehr als einer Million Euro seien keine Seltenheit.

"Vieles ist sinnlos"

Die Vorschriften sind nach dem Ermessen mancher Windradbauer zu umfangreich. „Vieles ist sinnlos“, sagt Leskien. Etwa das Durchspielen verschiedener Worst-Case-Szenarien. Das Eintreten dieser unglücklichen Umstände sei höchst unwahrscheinlich. Zudem forderten die verschiedenen Zertifizierungsunternehmen jeweils unterschiedliche Unterlagen an. Das mache einen Wechsel von einem Anbieter zur vielleicht günstigeren Konkurrenz schwierig, weil der Verwaltungsaufwand damit steigt. Nur mit dieser Wechselfreiheit aber können die Preise sinken.

ERE02 Zertifizierer DNV | Betonfundamentefertigung im polnischen Swinemünde: Ein Zertifizierer von DNV prüft Daten und Sicherheit der Transition-Pieces. Die Übergangselemente werden an Monopile-Fundamenten für Offshore-Windenergieanlagen genutzt. - © Foto: DNV
ERE02 Zertifizierer DNV | Betonfundamentefertigung im polnischen Swinemünde: Ein Zertifizierer von DNV prüft Daten und Sicherheit der Transition-Pieces. Die Übergangselemente werden an Monopile-Fundamenten für Offshore-Windenergieanlagen genutzt.

Zudem moniert der Eno-Mann falsche Zuständigkeiten etwa bei Simulationsmodellen. Eno entwirft sie in Eigenregie. „Wir müssen sie den Zertifizierern erst erklären. So bezahlen wir sie dafür, dass sie anschließend von unserer Fachkenntnis profitieren.“ Leskien fordert mehr Freiheit bei den Prüfungen.

Die Zertifizierer weisen Kritik an der Kostenstruktur von sich. So sagt Tüv-Spezialist Webhofer: „Wenn ein Hersteller 300 bis 400 Anlagen eines Typs verkauft, fällt der Aufwand für die Zertifizierung nicht ins Gewicht.“
Rund zehn Ingenieure sind beim Tüv Süd an einer Typenzertifizierung beteiligt. Ein Abschluss eines solchen Prüf- und Messprozesses dauert oft über ein Jahr.

Denn der Zertifizierer begleitet den kompletten Entwicklungsprozess von der Planung einer Anlage bis zum Test des Prototyps. Er rechnet alle Pläne ein zweites Mal durch. Weichen Werte ab, etwa Lastberechnungen bei starken Winden, setzen sich Auftraggeber und Zertifizierer zusammen, um eine Lösung zu finden.

Christoph Mertens ist Deutschland-Chef des Projektierers und Betreibers Dong Energy. Dong projektiert Offshore-Windparks in großer Zahl – und das auch in den technisch anspruchsvollen Seegebieten weit vor den deutschen Küsten. Hier sind Zertifizierungen besonders wichtig, weil Versicherungen, Banken und Genehmigungsbehörden wissen wollen, dass die Bauvorhaben ohne unnötig hohes Risiko umgesetzt werden. Mertens teilt Les­kiens Kritik an den Zertifizierern nicht. Der dänische Energiekonzern schreibt die Zertifizierungsaufträge international aus. Das senkt die Kosten. Derweil räumt auch Mertens ein, dass das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie über allzu üppige Regelwerke verfügt. Das Amt entscheidet über die Zulassung von Windenergieanlagen in der Nord- und Ostsee.

Im Gegensatz zu Großbritannien besitzt Deutschland kaum Erfahrung bei Arbeiten auf hoher See. Alleine deshalb seien die Anforderungen für die Zertifizierung von Offshore-Plattformen hierzulande so umfangreich, sagt Mertens. „Wir würden gerne reduzieren, etwa bei Teilen der Lastenberechnung und der Geoanalyse.“ Er gibt sich optimistisch: „Mit der zunehmenden Erfahrung werden sich die Prozesse verschlanken.“

Bis dahin wird auch Dong zur Kasse gebeten. Wie sehr, verrät Mertens nicht. „Offshore rechnen wir mit bis zu 0,5 Prozent der Kapitalaufwendungen einer Anlage für die Zertifizierung“, sagt GL-Experte Wöbbeking. Zertifiziert wird nicht nur die Windturbine auf See, sondern auch deren Fertigung, Verladung und Montage. Für eine Offshore-Anlage mit drei Megawatt Leistung fielen für die Zertifizierung noch einmal 45.000 Euro an – zusätzlich zur Typenzertifizierung.

Schwellenländer auf dem Vormarsch

Das klingt nach guten Geschäften für die Zertifizierer. Gut für sie: Seit einigen Jahren richten sich außereuropäische Länder bei der Zertifizierung nach den Normen der IEC, statt auf nationale Kennwerte und technische Vorgaben zu vertrauen. „Anlagen werden so besser vergleichbar und auch die internationalen Investoren wollen es so“, sagt Tüv-Mann Webhofer.

„Der Markt für IEC-Standards wächst“, heißt es im Positionspapier der IEC, das die Marktaussichten der Elektronikbranche in der Windkraft beleuchtet. Und auch die Zertifizierungsabteilung des Germanischen Lloyd GL Renewables Certification will wachsen (Kasten Seite 41). Denn für die deutschen Zertifizierer entwickeln sich vielversprechende Auslandsmärkte. Asiatische Länder steigern ihren Bestand an Windkraftanlagen rapide. China gibt das Tempo vor – bei jährlich gut 15 Gigawatt Zubauleistung. Auch Indien ist mit zuletzt rund drei Gigawatt Ausbauleistung ein wichtiger Markt für die Zertifizierer: Hier sind Typen- und Projektzertifizierungen seit dem Jahr 2000 schon gesetzlich vorgeschrieben. „Unser Geschäft machen wir schon jetzt zur Hälfte in Europa und zur Hälfte in Asien“, sagt Webhofer.

Die Arbeit hat auch Einfluss auf den Heimatmarkt. Denn nicht nur europäische Hersteller wie Gamesa und GE drängen nach Asien. Auch der umgekehrte Weg ist – wohl dank einheitlicher Gütesiegel – möglich: Sinovel, Goldwind und Dongfang Electric streben nach Europa. Derzeit zertifiziert der Tüv Nord zwei Turbinen von Goldwind. Der Germanische Lloyd hat Ende Oktober das Getriebe einer Zwei-Megawatt-Anlage des chinesischen Herstellers Chongqing Wangjiang überprüft. Bereits im Juni hat der Tüv Süd die Windenergieanlage DF82-1500 von Dongfang Electric als eine der ersten asiatischen Anlagen anerkannt.

Die Expertisenanbieter ändern dafür ihre Strukturen: So hat das US-amerikanische Unternehmen UL im Sommer die Cuxhavener Zertifizierungsfirma DEWI-OCC gekauft. Fusionen wie zuletzt von DVN und Kema und jetzt auch noch der geplante Merger von GL und DNV sind die Folge (siehe Kasten).

Stärkung durch Übernahmen

Der Tüv Süd übernahm im vergangenen August den britischen Spezialisten für Offshore-Anlagen PMSS für acht Millionen Euro. Mit der Übernahme wolle man die eigene Position in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Ländern und den USA stärken, sagte Boris Gehring, Chef von Tüv Süd Industry Service, anlässlich der Messe Husum Wind Energy. Den Internationalisierungsdruck hat auch die IEC erkannt. Sie will laut Positionspapier die Arbeit ihres Certification Advisory Committee vorantreiben. Das Ziel: Zertifizierungen weiter harmonisieren und Wildwuchs vorbeugen. Dabei kommen zunächst noch mehr Standards zusammen. „Die Richtlinien sind umfangreicher geworden“, sagt Wöbbeking, Mitglied des Ausschusses. Also weiterhin viel Arbeit für die Zertifizierer.

( Andreas Schulte )

Dieser Artikel erschien erstmals in der Februar-Ausgabe 2013 von ERNEUERBARE ENERGIEN - das Magazin.