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Französische Maire-volution

Tilman Weber

Wiesen, vereinzelte Obstbäume, Äcker und sanfte Hügel prägen das Umland der lothringischen Gemeinde Obergailbach, in deren Rue de la Liberté – der Straße der Freiheit – der kleine Amtssitz des Bürgermeisters liegt. Gleich zwei verschiedene Windparkprojekte auf dem etwas höher gelegenen Plateau östlich zwischen hier und dem Nachbardorf Erching haben protestierende Anwohner und Naturschützer verhindert. Dennoch hat die Naturschutzbehörde Dreal nach zwei Negativbescheiden 2018, nachdem das Marseiller Projektierungsunternehmen TCO in der zweiten Instanz geklagt hatte, das Projekt Rundstein später wieder zugelassen. Der Präfekt als oberster Dienstherr der staatlichen Behörden in der Region musste davor den TCO-Einwänden nachgeben: Er habe den Infrastrukturwert des Windparks nicht berücksichtigt und TCO werde den Sorgen vor einer Gefährdung des Greifvogelbestands des örtlichen Rotmilans durch Rotorblattschläge mit teilweisen Abschaltungen begegnen, so wie es anderswo in Lothringen als Vogelschutzmaßnahme anerkannt ist. Nun verzögert Dreal das Genehmigungsverfahren mit wohl nur leicht abgewandelten Argumenten, wogegen TCO bald wieder eine Klage erheben muss.

24,8 Prozent des Stroms in den französischen Leitungen war 2020 „grün“. Vorgegeben waren 27 Prozent. Der Rückstand betrifft Photovoltaik und Windkraft gleichermaßen. Paris reagiert und will die Erneuerbaren nun schneller ausbauen.

Der geplante Windpark für fünf 3,4 Megawatt (MW) leistende Turbinen ist eines von sieben durch TCO zwischen 2015 und 2018 beantragten Projekten in der ehemaligen Region Lothringen. Sechs bis acht Jahre später ist noch keines gebaut. Lange Genehmigungszeiten sind typisch für Frankreich, weshalb das Parlament im März dieses Jahres ein Beschleunigungsgesetz für schnellere Erneuerbare-Energien-Projektgenehmigungen verabschiedet hatte.

Wird es Rundstein noch retten? Während für das benachbarte Projektgebiet Bickenalbe keine Planungen mehr existieren, erweist sich in einem Garten neben dem Ratsgebäude in Obergailbach eine Anwohnerin mit jugendlicher Tochter an diesem frühen Julinachmittag über Rundstein als gut informiert: Weil 90 Prozent im Ort gegen die Turbinen sind, weil sie entweder als Naturschützer um den Rotmilan oder als Jäger oder Landwirte eine beunruhigende Wirkung der Rotoren auf Wild oder Kühe fürchten, so sagt sie, sei sie vorsichtig mit eigenen Äußerungen. Dabei hält sie Windenergie für einen guten Beitrag, um fossile Kraftwerke mit ihren klimaschädlichen Abgasen zu ersetzen und die Erderwärmung zu bremsen. Streit gab es in Obergailbach zum Glück nicht so, sagt sie, während der Nachbarort sich in zwei gleiche Lager verkracht habe.

„Einige Landbesitzer sind wohl dafür, weil sie ihre Flächen dem Windpark verpachten könnten“, sagt der Bürgermeister im noch nicht ganz fertigen Neubau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jean Marco Linger ist noch nicht lange Dorfchef. Zwei Säulen zieren die Flanken einer kleinen Treppe, die zum Eingang seines Privathauses führt. „Ein bisschen repräsentativ muss es hier sein“, sagt Linger. Auf die freiwillig von den Projektierern angebotenen Infrastrukturbeiträge sei das Dorf nicht angewiesen: „Wasser-, Gas- und Glasfaserversorgung sind bei uns neu gemacht. Für den Gemeindesaal ist uns das neue Dach zugesagt. Und unserer Schule geht es gut.“ Obergailbach ist wie andere Grenzgemeinden eher wohlhabend, weil sie hier Arbeit haben und viele als Berufspendler im benachbarten Deutschland gute Verdienste erzielen.

Verfehlte EU-Ziele: Paris muss handeln

Dabei setzte sich in den vergangenen zwei Jahren im nationalen öffentlichen Diskurs die Erkenntnis durch, dass es eine Beschleunigung des Erneuerbare-Energien-Ausbaus bei Beteiligung der Landkommunen dringend braucht. Denn 2021 musste sich die Regierung Emmanuel Macrons von der Europäischen Union (EU) in Brüssel bescheinigen lassen, das in der EU verbindlich erklärte eigene Energiewendeziel für 2020 verfehlt zu haben. Der Anteil erneuerbarer Energien am Mix der Gesamt­energieversorgung des Atomkraftlandes betrug nur 19 statt der anvisierten 23 Prozent.

Es betrifft besonders die Wärme-, ganz klar aber auch die Stromversorgung. Französische Elektrizität war 2020 mit 24,8 Prozent weniger grün als der vorgesehene 27-Prozent-Anteil. Auch jüngste Daten zeugen vom Rückstand. Bis Ende 2022 brachten Windparks an Land 20,6 Gigawatt (GW) ans Netz. Von Januar bis Juni kam 1 GW hinzu, womit das 24,1-GW-Ziel für 2023 erst 2024 in Reichweite kommt. Ähnlichen Rückstand verbucht die Photovoltaik (PV) zu ihren für 2023 anvisierten 20,1 GW. Auf See feierten die Franzosen 2022 nach zehn Jahren Projektzeit den ersten Offshore-Windpark, Ende 2023 werden zwei weitere den Zeiger auf 1,5 GW stellen, was aber 0,9 GW zu wenig ist.

Das politische Paris will keine Kehrtwende. Die in der Stromversorgung mit mehr als 60 Prozent dominante Atomkraft soll ihre Führungsrolle lange behalten. Bis 2035 könnten sechs neue Atomreaktoren vom fortentwickelten Druckwasserreaktortyp EPR2 entstehen, was Präsident Macron im Februar 2022 zum nationalen Klimaschutzbeitrag erkor, um vermeintlich clever Emissionen von Treibhausgasen wie Kohlendioxid zu vermeiden. Auch weigert sich Paris, zum Ausgleich der untererfüllten Grünstromkapazitäten wie im EU-Reglement vorgesehen „statistische MW“ von EU-Ländern mit übererfüllten Ausbauzielen zu kaufen. Aber es korrigiert den Kurs – will 2050 PV auf 100 GW sowie On- und Offshore-Windkraft auf jeweils 40 GW ausgebaut sehen.

Beschleunigungsgesetz mit Garantiefonds

Im Beschleunigungsgesetz bekommt das Energiewendeministerium nicht alles, was es gewünscht hatte. Als Kern führt die Reform nun Sonderzonen für Erneuerbare-Energien-Anlagen ein, die Kommunen einrichten – um danach auch Ausschlusszonen definieren zu dürfen. Genehmigungen von Projekten in solchen Zonen müssen die Behörden binnen drei, maximal vier Monaten abschließen. Ein Garantiefonds wird Projektierer für finanzielle Verluste entschädigen, wenn genehmigte Projekte nach Anfechtungen wieder ihr Baurecht verlieren. Widerspruchsgründe lässt das beschleunigte Verfahren von vornherein nach transparentem Reglement abwägen: Bei beanstandeten Beeinträchtigungen von Radar- oder Flugsicherungsanlagen durch Windturbinen können die projektierenden Unternehmen einen Ausgleich schaffen. Die Präfekturen prüfen die „visuelle Sättigung“ des Landschaftsbildes im Zusammenspiel mit vorhandenen Altanlagen. Sie müssen außerdem Zuständige für Erneuerbare-Energien-Projekte abstellen. Und Windparks dürfen eine Vergütung nach dem sogenannten Marktprämienmodell und direkte Stromlieferverträge mit großen Stromkunden kombinieren. Nicht ins Reglement fand ein vergünstigter Anwohner-Stromtarif, der die Akzeptanz von Windparks stärkt.

Für PV winken Schnellgenehmigungen an Autobahnen und in Kombination mit landwirtschaftlicher Nutzung, bei Agri-PV also. Auch Genehmigungen der Offshore-Windparks erleichterte Paris. Doch wo das Gesetz bei Offshore-Wind und PV von neuen Ausbauzielen ausgeht, gibt es diese Festlegung für Onshore-Windparks so klar nicht. Noch sieht das Ausschreibungsregime für neue Windkraft-Vergütungsrechte an Land wie bisher zwei Runden mit 925 MW im Jahr 2024 und je eine 2025 und 2026 vor.

Für einige Beschleunigungsinstrumente müssen Behörden und Politik erst noch definieren, wie es funktionieren kann. Prinzipiell sollen sich Kommunen unkompliziert bei Eigenverbrauch des Grünstroms als Investoren beteiligen und Stromabnahmeverträge zeichnen dürfen. Jenseits des Beschleunigungsgesetzes sieht ein „Pakt“ des vergangenen Jahres zwischen Staat und Offshore-Wind-Wirtschaft jährliche Ausschreibungen von 2 GW im Meer ab 2025 vor. Schon 2022 nahm der Ausbau indes Fahrt auf, schaffte bei Windkraft 1,9 GW an Land und 0,5 GW auf See, bei PV 2,6 GW.

3 Monate kurz nur wird die Genehmigung neuer Anlagenparks, ob Windenergie oder Photovoltaik, in Sonderzonen zum Erneuerbaren-Ausbau dauern dürfen. Das sieht das neue Beschleunigungsgesetz vor, dem das französische Parlament im März grünes Licht gab. Die Kommunen dürfen die Sonderzonen einrichten und davon auch profitieren.

Dabei ist die Energiewende durchaus schon seit Jahren gerade in den nördlichen Regionen ein Faktor der Wirtschaftspolitik. Hier profitieren Orte wie Forbach oder Hambach wenige Dutzend Kilometer entfernt von Obergailbach von einer Industrie-Ansiedlungspolitik, um die ehemalige Kohlebergbauregion umzukrempeln. In Forbach siedelte 1990 das Stuttgarter Kabelunternehmen Lapp mit seiner größten Fertigungsstätte an. Lapp spielt eine Rolle als Lieferant für Photovoltaik- oder Windparks. In Hambach bei Sarreguemines begann Ende der 1990er-Jahre die Produktion von Smart-Autos, die nun als Elektroautos vom Band rollen. Haffner Energies baut in der größeren Region die Technologie zur Wasserstofferzeugung aus Holzbiomasse aus.

TCO war indes auf Einladung des damaligen Bürgermeisters und der Dorfchefs der Nachbar­orte auf der Anhöhe tätig geworden. So schildert es Patrick Wurster, der Geschäftsführer von TCO Wind Lorraine, wie sich das Windenergiegeschäft der Südfranzosen nennt. Die Orte hätten auf Pachteinnahmen durch den Windpark gehofft, sagt Wurster. Doch nach Neuwahlen und dem ersten Bürgermeisterwechsel in der Nachbargemeinde nahmen Bedenken wegen zu starker Veränderungen der Landschaft und wegen der Rotmilane zu. Auch der Verzicht auf eine Turbine und Ausgleichsflächen für Weideland beendeten den Widerstand nicht. So geht Rundstein in die dritte Genehmigungsrunde. Wurster setzt nun darauf, den Anwohnern freiwillig Strom aus dem Windpark zu günstigen Tarifen anzubieten.

Branche hofft nun auf die Sonderzonen

Auch solche hartnäckigen Unwägbarkeiten sollen die Sonderzonen heilen. Wenn die ersten vielleicht 2024, spätestens aber 2027 bekannt seien, könnten sie bei richtiger Definition „spielentscheidend“ werden, heißt es bei H2Air im nordfranzösischen Amiens. Das Unternehmen entwickelt Windparks, um selbst Strom zu erzeugen. Nach im Mittel acht Jahren Projektierungszeit schloss H2Air alleine in den vergangenen drei Jahren zehn Windparks oder 216 MW ans Stromnetz an. Sie finden sich alle in der lothringischen Region Grand Est, in der anschließenden Nordseeregion Hauts-de-France und im etwas westlich gelegenen Centre-Val de Loire. 2024 werden nochmals drei neue H2Air-Windparks dazukommen. Der Leiter für die Windenergieentwicklung des Unternehmens in Frankreich, Julien Reydel, verweist auf die fehlende Stichhaltigkeit vieler Klagen. Die zeitaufwendigen Verfahren gewinne H2Air zu 95 Prozent.

Kurz vor Redaktionsschluss gab Energiewendeministerin Agnès Pannier Runacher noch ihren Entwurf einer neuen Energie- und Klimastrategie frei. Demnach müsste der Zubau vor allem bei Windkraft an Land, PV und Biogas viel früher als zuletzt angepeilt auf Hochtouren kommen. Ein tabellarischer Überblick in ihrer SFEC abgekürzten Strategie zeigt eine installierte PV-Kapazität schon 2035 von 75 bis 100 GW. Windparks an Land würden 2035 mit 40 bis 45 GW einspeisen. Und die Stromerzeugung aus Biogas nähme auf ihr Fünffaches zu.

Die Definition der neuen Zonen könnte zum Game-Changer werden.

Julien Reydel, Leiter Windparkentwicklung Frankreich, H2Air, über vielleicht ­spielentscheidende, also kurskorrigierende Erneuerbare-Energien-­Sonderzonen

Rückstand

Erzeugungskapazitäten für Wind- und Sonnenstrom in Frankreich werden auch Ende 2023 deutlich das verfehlen, was der nationale Fahrplan vorsieht. Bis 2022 speisten Windparks an Land mit 20,6 Gigawatt (GW) ein, 480 Megawatt lieferte zudem ein Windpark im Meer. Ende 2023 müssten aber schon 24,1 GW onshore und 2,4 GW offshore am Netz sein. Dies wird ebenso verfehlt wie die für 2023 anvisierten 20,1 GW Photovoltaik. Ende 2022 betrug deren installierte Leistung kaum mehr als 15 GW.