Im Karlsruher Smart Production Park und anderswo sind KI-Ingenieure mit künstlicher Intelligenz der besten Grünstromnutzung auf der Spur.
Tilman Weber
Um wie viel schwächer als erwartet die Sonne binnen Sekundenbruchteilen die Leitungen nach dem elektrischen Schluckauf belädt, malt der gelernte Dateningenieur analog mit blauem Edding. Todor Kostovs Filzerstrich auf der Whiteboard-Wand markiert das offenbar genaue Stromszenario eines Einspeise-Hicksers, der nach einem starken Störereignis eintrat. Ein zuvor gemalter roter Farbstrich kennzeichnet den realen abgesackten Stromeinspeisewert, dem die blaue Filzstiftkurve sehr nahe kommt. Eine gestrichelte grüne Filzstiftlinie stellt die davon abweichende Einspeiseprognose mit hohem Konfidenzwert dar, also eigentlich hohem Vertrauenswert, die deutlich später absackt und danach sehr anders als die blaue und rote Linie schwingt, ehe alle drei Linien zur Sinuskurve zurückfinden.
Kostovs blauer Filzstrich markiert die Prognose, die sein speziell getrimmtes digitales Rechnerprogramm unter durch andere Algorithmen errechneten Prognosen mit einem „niedrigen, aber dennoch richtigen Konfidenzwert“ ermittelt hat. Dahinter steckt eine künstliche Intelligenz (KI), die Abweichungen im Normalverhalten einer elektrischen Versorgung durch die Vorhersage von Datenkurven präzise vorweg bestimmt und damit viel Geld in der Stromversorgung eines Unternehmens spart.
90 Prozent weniger Energiekosten stellt das Karlsruher Unternehmen Reasonance seinen Kunden dadurch in Aussicht, dass künstliche Intelligenz ihre Versorgung mit Grünstrom präzise vorausberechnet und ihr Datenmanagement automatisiert.
Kostov ist Geschäftsführer unter vier Mitarbeitenden des Karlsruher Start-ups Reasonance. Die allesamt aus Bulgarien stammenden jungen Datenverarbeitungsspezialisten haben für die zunehmend bedeutende Versorgung der Wirtschaft mit grünem Strom sowie umgekehrt das regionale Anliefern von Wind- und Sonnenstrom durch Energieversorger eine digitale Effizienzkur entwickelt. Reasonance-Kunden sollen ihre Energiekosten so um bis zu 90 Prozent senken können. Wichtig ist der KI-Kniff mit dem Konfidenzwert: Das „Inferenz“ genannte Verfahren gleicht Einspeiseprognosekurven ab und bestimmt bei nur im Mittel zwei Prozent Abweichung, wie viel kostenlos eigenerzeugter Grünstrom viertelstündlich am Folgetag zu bekommen ist. Es klärt auch automatisiert, wie und wann dieser Strom sich am besten speichern und verkaufen lässt oder wann Stromkauf erforderlich bleibt. So schöpft es Preisvorteile im kurzfristigen Strommarkt aus.
Berechnung des Unberechenbaren
Das kluge Programm berücksichtigt Erwärmungen und Verschmutzungen der Solarzellen, technische Ausfälle in Solaranlagen, plötzliche wetterbedingte Temperatureinbrüche, regionale Feste und Änderungen am Arbeitsmarkt durch Kündigungs- oder Anstellungswellen bei örtlichen Unternehmen oder auch das Ladeverhalten von Elektroautoflotten beim Ein- wie Ausspeisen von Elektrizität sowie von elektrischen Wärmepumpen. Über eine Daten- und KI-Selbstentwicklungsplattform namens Atlas wollen die Karlsruher Internetdienstleister zusätzlich vorhandene Rechenmodelle für Einspeiseprognosen einmal wöchentlich mit einem Mausklick auf Basis realer Prognoseabweichungen und sich ändernder Voraussetzungen der Energiemärkte nachtrainieren. Ihre Plattform integriert auf Kundenwunsch auch die Schnittstellen zu unterschiedlichsten Quellen von Daten, zu deren Import und Berechnung die Kunden allein mit Rücksicht auf Datenschutzfragen viel Zeit und Geld einkalkulieren müssten.
„Wir betreiben Modelle für die Kunden, die uns dazu die Daten liefern. Für größere Unternehmen im gehobenen Mittelstand ersetzen wir bis zu zehn Dateningenieure, die diese sonst zum ständigen Trainieren ihrer Prognosemodelle benötigen würden“, sagt Kostov.
Für seine Innovation hat Kostovs Team 2024 die Auszeichnung als KI-Champion des Landes Baden-Württemberg erhalten plus 2025 den Top Innovation Award des Bonner Marktforschungshauses EuPD Research. Das Karlsruher Gründerzentrum, in dem sich Reasonance niedergelassen hat, heißt Cyber Lab und gilt als hippe Adresse. Es beherbergte zwischenzeitlich bereits ein Unternehmen für Luxusuhren und eines, das die Online-Zusammenarbeitsplattform Zoom vermarktete. Ein Brunnen im Innenhof mit in farbiges Licht getauchtem Sprühnebel, eine Gemeinschaftsgroßküche und ein Loft mit sechs Schreibtischen auf Turnhallenboden imitierendem roten Belag zwischen Betonpfeilern, Kabelschächten und von der Decke abgehängten Mehrfachsteckdosen sind offenbar die geeignete Kulisse für die Kreativität, die es in der Energiewende fürs Einbinden wetterabhängiger grüner Stromerzeugung nun braucht. „It is what it is“ steht auf einem mit einem Spiegel bestückten Sitzmöbel – und könnte erklären, was KI in der Erneuerbaren-Branche nun leisten muss: zwischen erwarteten und echten Leistungskurven unterscheiden – und durch Digitalisierung automatisiert die von ihr selbst erkannten bestmöglichen Erzeugungskurven ansteuern.
Was sich hier so selbstverständlich und banal lesen mag, ist etwas, das die Firma Divis Intelligent Solutions aus Dortmund mit einem heiß diskutierten anderen Computingansatz anzusteuern versucht. Denn wie Reasonance versuchen die Westfalen – in Zusammenarbeit mit den Kunden – unter vielen voneinander abweichenden Datenströmen diejenigen zu trennen, die nicht zueinander passen.
Niedriger, aber richtiger Konfidenzwert (Vertrauenswert)
So ein Programm müsse für bestimmte Anwendungsfälle zusätzlich zu den bewährten Machine-Learning-Modellen und Rechencodes mit Datenströmen anders als üblich umgehen, so erklärt es Jens Beier. Der Kundenbetreuer bei Divis ist so etwas wie der Cheferklärer für das von den Dortmundern erkundete Prinzip des sogenannten Quantencomputings. Statt dem für Computer klassischen Bits-basierten Kombinieren der Lösungsalternativen von nur 1 und 0, die über lange Pfade zu Rechenergebnissen und Informationen führen, soll Quantencomputing mittels QBits viel mehr Rechenschritte zeitgleich rechnen. „Wenn übliche Rechner wie beim Schiffeversenken-Spiel viele Kombinationen von A1 bis Z26 durchprobieren müssen, um gesuchte Positionen zu finden, könnten Quantencomputing-Rechner direkt darauf zielen“, sagt Beier.
Algorithm Tournament nennt er es: also ein Algorithmen-Turnier, das unter mehreren Rechenformeln die gerade besten für eine Problemstellung der Grünstromintegration situativ ausfindig macht und anwendet. Diese mit Quantencomputing kombinierte KI könnte beispielsweise die individuell für ein Unternehmen in einer bestimmten Zeit besten Verkaufsfenster für Ökostrom öffnen. Oder sie könnte Unregelmäßigkeiten in den Einspeisekurven so früh eindämmen, dass sie sich nicht aufschaukeln.
KI-Planung für weniger Netzausbaubedarf
Im Stuttgarter Erneuerbare-Energien- und Energiespeicher-Forschungsinstitut ZSW findet staatlich unterstützt KI-Forschung statt, die Netzausbauplanungen nicht mehr auf extreme Situationen ausgerichtet sehen will. Durch vielfach verzweigte neuronale Netze, die aus Daten der Vergangenheit die Leistungen für einzelne Grünstromerzeugungsanlagen abhängig von den Wetterbedingungen ermitteln und aus Fahrplänen der Grünstromvermarkter im Stromhandel auf reale Netzauslastungen schließen lassen, wollen die Stuttgarter den Milliarden Euro schweren Investitionsbedarf beim Netzausbau deutlich verkleinern. „Wir wollen dabei auch die beste Aufnahmefähigkeit von Batteriespeichern am Netz genau so nutzen, dass wir Erneuerbare-Energien-Strom möglichst kurz vor dem Liefertermin noch handeln können, aber gerade so, dass es keine Netzüberkapazitäten dafür braucht“, sagt ZSW-KI-Koordinator Frank Sehnke.
Auch wie Windturbinen aktiv unproduktiven Luftstromturbulenzen ausweichen und Windlastwechsel reduzieren oder dass die Produktion von Photovoltaikzellen mit anderen Temperaturen und Drücken im Produktionsprozess bei Verwendung von Selen und Indium zu besserer Zellqualität führt, hat das ZSW als KI-Ziel ermittelt. Das Institut lässt in einem Laboratorium, dem KI-Lab EE, mittelständische Erneuerbare-Energien-Firmen durch Eingabe ihrer Daten in ZSW-Rechenmodelle testen, wo sie effizienter werden können.
Sprachintelligenz belebt Informationsfluss
Die Datenintelligenz der Energiewende lässt sich offenbar sogar durch bekannte Sprach-KI wieChatGPT, Mistral oder Llama anheben. Davon ist Jens Kulenkampff überzeugt. Der ehemalige Fertigungsplaner beim früheren Windturbinenunternehmen Repower gründete vor sechs Jahren das Digitalisierungsunternehmen Digital at Work. Mit einer digitalen Wissensplattform zielt es darauf ab, dass Kollegen und Partner selbst bei unterschiedlicher Muttersprache und in verschiedenen Funktionen ihre Erkenntnisse aus ihrer gemeinsamen Arbeit präziser und schneller denn je miteinander teilen – und wieder finden. Das soll freien Informationsfluss fördern, der möglichst viele qualifizierte Daten ins Unternehmen bringt. Die eingebaute Sprach-KI kann dann dieses Wissen wieder finden und sofort bereit stellen. Die Mitarbeitenden werden dabei nicht in Formulare gezwängt und haben trotzdem alles Wichtige sofort zur Hand. „So eine KI findet die richtigen Informationen nicht anhand eines korrekt geschriebenen Schlüsselworts, sondern vergleicht Bedeutung und Kontext“, sagt Kulenkampff.
So eine KI findet die richtigen Informationen nicht anhand eines korrekt geschriebenen Schlüsselworts, sondern vergleicht Bedeutung und Kontext.
Das Reasonance-Team in Karlsruhe arbeitet derweil vom Start weg daran, das von Kostov „Maschinenlernen“ genannte Computer-Trimmen bei möglichst vielen für die effiziente Energiewende wichtigen Akteuren einsetzen zu können. Vier Stadtwerke, ein kommerzieller Eigentümer eines Industrieareals, ein Solarstromhandelsunternehmen, zwei Stadtwerke und ein größeres Gebäude mit Photovoltaik-Batterie-Hybridversorgung gehörten bis zum Frühjahrsbeginn zu den ersten Vorzeigepartnern.
Nun will Kostov die großen Stromspeicher an den elektrischen Verteilnetzen zur möglichst netzdienlichen und dennoch langlebigen Grünstrombevorratung ertüchtigen. „Eine nicht triviale Aufgabe“, sagt er. „Große Speicher sind derzeit die Elefanten im Raum: riesige herausfordernde Phänomene, die jeder sieht und über die niemand spricht.“ Sie von null auf hundert be- und entladen zu können, ohne sie kaputtzumachen, könnte eines der nächsten Projekte der Karlsruher werden. Binnen sechs Jahren könnten bessere Erträge und höhere Batterielebenszeit die KI-Gesamtkosten wieder einspielen, sagt Kostov. „Das wird extrem relevant für die Industrie.“