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4 Gründe, die gegen eine verlängerte Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke sprechen

Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehende Reduzierung der Gaslieferungen nach Deutschland hat heftige Auswirkungen auf das Energiesystem – sowohl positiv als auch negativ. So ist der Widerstand gegen einen Umstieg auf erneuerbare Energien weitgehend verschwunden. Die Nachfrage nach Solaranlagen steigt in bisher ungekannte Dimensionen. Viele Bundesbürger haben endlich erkannt, dass die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen nicht die beste Strategie ist, um sich mit Energie zu versorgen – inzwischen auch nicht mehr die billigste.

Doch die gesunkenen Gaslieferungen und die Gefahr, im Winter nicht genügend davon zu haben, weil die Umstellung der Gebäude auf Ökoenergieversorgung jahrelang vernachlässigt wurde, hat auch die Debatte um die Atomkraft wieder entfacht. Oft wird diese auf ideologischer Ebene geführt. Doch faktisch können die drei verbliebenen Atommeiler kaum die Verstromung von Erdgas verhindern. Ganz abgesehen davon, dass diese nicht einfach weiterlaufen können, sondern der Weiterbetrieb vor massiven Hürden steht.

Die Energiewirtschaftlerin und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, hat in der ZDF-Sendung mit Markus Lanz die vier relevanten Punkte aufgezählt, die gegen den Weiterbetrieb der Atommeiler sprechen:

1. Das Atomgesetz müsste geändert werden

Der Betrieb von Atomkraftanlagen muss genehmigt werden. Die Betriebsgenehmigungen der verblieben Atomkraftwerke erlöschen zum Jahreswechsel. So steht es im Paragraph 7 Absatz 1a des Atomgesetzes. „Das müsste man ändern und das geht nicht so kurzfristig“, erläutert Claudia Kemfert mit Blick auf ein etwaiges komplettes Gesetzgebungsverfahren.

2. Sicherheitsprüfungen sind notwendig

Die Kernkraftwerke müssen regelmäßig geprüft werden, ob sie noch sicher sind. Für die drei Anlagen, die noch am Netz sind, wäre eine solche aufwändige Sicherheitsüberprüfung im Jahr 2019 erforderlich gewesen. Denn diese sind alle zehn Jahre fällig und die Kraftwerke Emsland, Isar2 und Neckarwestheim 2 wurden 2009 das letzte Mal überprüft. „Das hat man verschoben, weil man damals schon wusste, das die Anlagen Ende dieses Jahres vom Netz gehen“, sagt Kemfert. „Das müsste man aber machen und das geht auch nicht innerhalb von ein paar Monaten, auch wenn es grundsätzlich machbar wäre“, erklärt sie für den Fall, dass die Atomkraftwerke tatsächlich über den Jahreswechsel hinaus weiterbetrieben werden sollten.

3. Brennelemente und Fachpersonal fehlen

Die drei noch laufenden Atomkraftwerke werden derzeit mit Ausblick auf die Abschaltung zum Jahresende hin betrieben. Das bedeutet, es gibt keine neuen Brennelemente mehr. Selbst wenn diese zu beschaffen wären, ist einer der Hauptlieferanten Russland, von dem man sich allerdings derzeit unabhängig machen will. Doch auch aus anderen Ländern könnte der Kernbrennstoff bezogen werden. „Doch auch diese müssten eine sicherheitstechnische Prüfung durchlaufen. Auch das geht nicht in der Kürze der Zeit“, betont Kemfert. „Deshalb braucht man mehr Vorlaufzeit, wenn man die Kernkraftwerke länger laufen lassen will.“ Dazu kommt noch, dass das Personal für einen Weiterbetrieb derzeit nicht vorhanden ist, weil die Beschäftigungsverträge auf das Ende der Laufzeit am 31. Dezember 2022 hin abgeschlossen sind.

4. Atomkraft kann kein Gaskraftwerk ersetzen

Doch selbst wenn diese drei Hürden vielleicht mit Abstrichen noch genommen werden könnten, ist der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke kein Mittel, um die Verstromung von Erdgas zu verhindern, wie immer wieder suggeriert wird. Diesem Wunsch erteilt Claudia Kemfert eine Absage. „Denn Atomkraftwerke sind Grundlastkraftwerke, die laufen durch. Gaskraftwerke werden nur zugeschaltet, wenn sie wärmegetrieben sind oder wenn sie Ausgleich schaffen müssen bei schwankenden erneuerbaren Energien. Das sind sogenannte Spitzenlastkraftwerke. Deshalb kann man sie nicht 1:1 (durch Atomkraftwerke, d. Red.) ersetzen.“

Dies ist gut in den Energy Charts des Fraunhofer ISE zu sehen. Dort steigt die Produktion von Strom aus Gaskraftwerken deutlich an, wenn die Stromnachfrage ebenfalls steigt und die Erneuerbaren diese noch nicht abdecken können, weil deren Ausbau in den vergangenen Jahren behindert wurde. Dies ist mit den trägen Atomkraftwerken genauso wenig zu machen, wie die Ergänzung der volatilen Einspeisung von Wind- und Solarstrom. Das dies derzeit die Gaskraftwerke übernehmen, bis genügend Erneuerbare ausgebaut sind, zeigt der wöchentliche Verlauf der Stromproduktion in Deutschland. So ergänzen sich die Windkraft und die Photovoltaik im Verlauf gegenseitig. Wenn dies nicht komplett gelingt, stehen die Erdgaskraftwerke bereit.

Die Daten zeigen deutlich, dass die Erdgaskraftwerke mit den Erneuerbaren zusammenwirken, von der Atomkraft aber nicht beeinflusst werden.

Velka Botička; Datenquelle: EnergyCharts des Fraunhofer ISE

Die Daten zeigen deutlich, dass die Erdgaskraftwerke mit den Erneuerbaren zusammenwirken, von der Atomkraft aber nicht beeinflusst werden.

In diesem Verlauf wird auch deutlich, dass die Kernkraftwerke den größten Teil der Zeit unter weitgehend unter voller Leistung laufen. Nur im Mai dieses Jahres ging die Stromproduktion aus der Kernkraft um bis zu einem Drittel zurück – aufgrund einer Wartung in Emsland –, ohne dass die Stromproduktion der Erdgaskraftwerke in dieser Zeit zugenommen hat. Auch als Ende Mai die Stromproduktion der Atomkraftwerke wieder zugelegt hat, ist die der Gaskraftwerke nicht etwa gesunken, sondern ebenfalls weiter angestiegen., hauptsächlich weil weniger Windenergie produziert wurde.

Anfang Juni lieferten die Kernkraftwerke aufgrund einer Wartung in Neckarwestheim 2 ebenfalls weniger Strom als sie von ihrer Leistung her könnten, während gleichzeitig die Stromproduktion der Erdgaskraftwerke ebenfalls zurückging, unter anderem weil die Windkraft wieder mehr lieferte und die Photovoltaik ihren bisherigen Spitzenwert in diesem Jahr erreicht hat. Als zwei Wochen später die Atomkraftwerke wieder die volle Leistung erreicht haben, stieg gleichzeitig die Energieproduktion der Gaskraftwerke an. Dieser Verlauf zeigt deutlich, dass das Abschalten der Kernkraftwerke kaum Einfluss auf die Verstromung von Erdgas hat, sondern beide Technologien in der energiewirtschaftlichen Logik kaum etwas miteinander zu tun haben.

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Zudem habe Deutschland keine Stromknappheit, erklärt Kemfert. Auch dies lässt sich in den Energy Charts gut ablesen. Denn der Nutzer kann die einzelnen Erzeugungstechnologien wegklicken. Lässt man die Atomkraft weg, wird deutlich, dass es kaum Zeiten gibt, in denen sie für die Stromversorgung in Deutschland tatsächlich noch gebraucht werden. Vielmehr gehe es darum, mit dem Erdgas Wärme nicht nur für die Heizung in den Wohnungen, sondern auch für Industrieprozesse bereitzustellen, wie Claudia Kemfert betont. Dabei fällt der Strom quasi als Nebenprodukt ab. Dies können Atomkraftwerke aber nicht liefern, da sie für die Wärmeversorgung gar nicht gebaut sind.

Die Analysten von Energy Brainpool haben auf der Basis der realen Betriebsszenarien im Auftrag von Green Planet Energy ausgerechnet, wie viel Erdgas die Atomkraftwerke tatsächlich bei einem Weiterbetrieb einsparen könnten. Das Ergebnis: Bezogen auf den Erdgasverbrauch 2020 von 875 Terawattstunden könne der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke im Jahr 2023 bis zu 8,7 Terawattstunden beziehungsweise ein Prozent des jährlichen Erdgasverbrauchs in Deutschland einsparen, schreiben die Analysten in ihrem Report. Voraussetzung ist, dass die Atomkraftwerke unter voller Leistung weiterlaufen, also schnell neue Brennstäbe bekommen, was selbst die Betreiber als unwahrscheinlich ansehen. Sollte es zum jetzt diskutierten Streckbetrieb kommen, geht es darum, die verbleibende Energiemenge, die die Kernkraftwerke mit den jetzigen Brennstoffen noch erzeugen können, über einen längeren Zeitraum zu produzieren. Sie würden dann aber nur im Teillastbetrieb laufen, was das Einsparungspotenzial entsprechend verringert.

Damit würden die Kernkraftwerke, wenn sie denn weiterlaufen, bestenfalls entweder die Kohlekraftwerke aus dem Markt drängen oder die Stromexporte der Bundesrepublik vergrößern. Schlimmstenfalls würden sie dann sogar die Netze für weitere Ökostromanlagen verstopfen – alles keine erklärten Ziel eines Weiterbetrieb. Schließlich geht es um Einsparungen beim Gasverbrauch. Hier plädiert Claudia Kemfert, sich viel stärker auf die Nachfrageseite zu konzentrieren und in diesem Bereich endlich einen Plan zu machen, wo Erdgas eingespart werden kann. Dies solle flankiert werden mit einer Wärmepumpenoffensive, um endlich den Erdgasverbrauch bei der Wärmebereitstellung zu senken. (su)

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