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Kommentar

Ein bisschen länger Atomenergie für die Freiheit Europas

Selten wohl bedeutete ein so vielfaches Nein in der komplizierten Politikerkommunikation ein so starkes Ja, wie das von Winfried Kretschmann im Heute Journal. Der baden-württembergische Landesvater, erster und einziger Ministerpräsident Deutschlands der Umweltschutzpartei Bündnis 90/Die Grünen, hat mit elf Mal Nein in der Nachrichtensendung des Senders ZDF am Dienstag die Frage von Sprecher Christian Sievers nach der Standhaftigkeit der Grünen beantwortet. Um genau zu sein, hat er die Frage nach einer möglichen Zustimmung seiner Partei zu einem Weiterbetrieb der letzten deutschen Atomkraftwerke wegen des Ukrainekriegs ins Jahr 2023 hinein gar nicht abgewartet: „Wenn Sie jetzt bleiben bei einer klaren Ablehnung von verlängerten Atomkraftlaufzeiten bei den Grünen, dann …“, hatte Sievers angesetzt. „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein … nein, nein, das habe ich nicht behauptet“, sagte Kretschmann.

Und auf die angedeutete Folgefrage, ob die Grünen in einer Engpasssituation aufgrund des rasanten Ausstiegs aus dem aus Russland importierten Energieträger Gas sich auf einige Monat Weiterbetrieb der verbliebenen nuklearen Kapazitäten einlassen würden – „…keine klare Ablehnung?“ –, sagte Kretschmann: „Nein, ich habe nur gesagt …“ Als Sprecher Sievers zeitgleich die Haltung der Grünenpartei einem weiteren Stresstest unterzog – „Also im Moment ist das ja die klare Linie …“, verstärkte Kretschmann: „Nein, ich habe nur gesagt:  Nein, nein, nein!“ Um dann lieber grundsätzlich das vermeintliche klare Bekenntnis seiner Partei zum Atomausstieg zu sprechen: „Ich habe gesagt, weder die Grünen, noch sonst eine demokratische Partei will zurück zur Atomkraft in Deutschland.“

Tatsächlich bedeutet die Antwort des erfahrenen Grünenpolitikers übersetzt: Ein klares Ja dazu, dass zur Sicherung der deutschen Energieversorgung auch ein Weiterbetrieb der letzten drei AKW um zumindest mehrere Monate über das gesetzlich vorgeschriebene Laufzeitende am 31. Dezember 2022 hinaus akzeptabel sei.

»Es geht ja nur um eine zeitlich begrenzte, eventuelle Verlängerung von noch laufenden Atomkraftwerken«, sagte der Grüne. »Das werden wir sehr nüchtern auswerten und entscheiden.«

Die Grünen mit ihren drei für die Energiewende derzeit entscheidenden Ministerien für Wirtschaft und Klimaschutz, für Umweltschutz und Reaktorsicherheit und für Außenpolitik stehen unter dem wachsenden enormen Druck ihrer eigenen außenpolitischen Prioritäten. Zu diesen Prioritäten zählt es, eine Front zumindest der Staaten der Europäischen Union (EU) zu bilden und zu halten gegen das in der Ukraine Krieg führende Russland als bisherigen Haupt-Gaslieferanten insbesondere Deutschlands, aber auch vieler anderer EU-Länder. Noch am Dienstag einigten sich die Energieminister der EU-Länder darauf, dass die EU-Länder jeweils 15 Prozent weniger Erdgas verbrauchen sollen, das auch der Stromversorgung und nicht zuletzt der Wärmeversorgung und als wichtiger Rohstoff für die Prozessenergie von Industrieunternehmen dient. Für einige Länder soll es aber Ausnahmen geben. Weil die EU-Länder und der deutsche Wirtschaftsminister nicht schnell genug an Gas aus anderen Quellen kommen, haben die grün geführten Ministerien bereits einer vorübergehend längeren Nutzung der Kohle-Strom- und Kohle-Fernwärmekraftwerke im Reservebetrieb zugestimmt, dem Import von gekühltem Flüssiggas mit Schiffen auch aus sogenannten Fracking-Fördergebieten, einer Erschließung von Erdgasvorkommen in der küstennahen deutschen Nordsee. All das setzt auf besonders Kohlendioxid-emissionsreiche und zur Klimaerwärmung beitragende Technologien und Rohstoffe und senkt das Tempo beim Klimaschutz.

Und nun könnte auch die Atomkraft noch ein bisschen länger überleben – und damit die Energiewende pausieren lassen. Denn ohne den Ausstieg der großen Kapazitäten konventioneller und unbeweglicher Kraftwerke sinkt die Attraktivität für Investoren der Erneuerbare-Energien-Anlagen. Denn die Stromvermarktung wird damit ungewiss – aufgrund häufig überlasteter Netze bei weiterem Ausbau von Wind- und Solarstromanlagen und zeitgleicher starker Einspeisung durch unbewegliche Kraftwerke wie vor allem Atomkraftwerke, und ohne echte Preissignale durch hohe Preise für CO2-Emissionsrechte.

Der Schlüssel für die Entscheidung der Grünen-Ministerinnen Steffi Lemke im Umweltressort und Annalena Baerbock im Außenamt sowie insbesondere des Wirtschafts- und Energieministers Robert Habeck ist ein zweiter Stresstest für das deutsche Stromnetz bei einer Simulation eines Ausfalls der Gaskraftwerke. Bei einem ersten Stresstest im Frühjahr hatten das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium noch vorgerechnet, dass die Atomkraft zur Wärmeversorgung fast nichts beitragen kann – und das Stromnetz ohne die noch geringen übrig gebliebenen AKW-Kapazitäten von sechs Gigawatt zurechtkommt.

Jetzt aber deuten viele Grünen-Politiker an, wie sie dem eigenen Interessenkonflikt – kurzfristige Klimaschutzfortschritte und schnelle Energiewende versus harte Front gegen die Importabhängigkeit vom russischen Gas – entkommen könnten: Ein sogenannter Streckbetrieb sollte nur noch die schon vorhandenen Uranbrennstäbe in den drei Kernkraftwerken bis zu deren kompletten Verbrauch zum Einsatz kommen lassen. Dafür würden die Kernkraftwerke sofort in einen gewissen Sparbetrieb zurückschalten, lautet das vermeintliche Hoffnungsszenario – und damit länger ihre Notreserve im Einsatz halten.

Weitere Grünen-Spitzenpolitikerinnen und Grünen-Spitzenpolitiker gehen rhetorisch mehr und mehr in diese Richtung. So sage die frühere Grünen-Spitzenkandidatin und jetzige Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring Eckhardt am Sonntag im TV, abzusehen sei, dass das Atomkraftwerk Isar 2 in Niederbayern als ein Sonderproblem zu behandeln sei: Es gebe zu wenige Windparks in Bayern, um bei einer Gasnotlage die Stromversorgung ohne Atomenergie zu garantieren. Und diese bayerische Situation könne dazu führen, „dass die Brennstäbe ausgebrannt werden müssen, damit man in Bayern über die Runden kommt.“

Zwar versuchte die Außenministerin dagegen die Debatte wieder zu beruhigen. Baerbock nannte am Dienstag die Diskussion um Atomkraft nicht zielführend. Sie wird besonders eifrig vorangetrieben durch die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion, aber auch durch die in der Ampelkoalition mitregierende FDP und zunehmend auch durch wichtige SPD-Politiker wie Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Baerbock verwies auf die Nutzlosigkeit der Atomkraft für die durch die Gasknappheit bedrohte Wärmeversorgung.

Doch ausgerechnet die miserable Situation der wegen ihres hohen Atomstromanteils wackeligen Energieversorgung in Frankreich könnte den zweiten Stresstest in die gewollte Richtung lenken. Das deutete Wirtschaftsminister Habeck am Dienstagabend noch an: Der verwies nach der Einigung der EU-Minister auf ihren Gas-Sparplan auf die hohe Zahl der zu Wartungszwecken heruntergefahrenen französischen Atomkraftwerke und die in der klimawandelbedingten Trockenheit nicht mehr ausreichend AKW-Kühlwasser liefernden französischen Flüsse. Diese Lage könne unter Umständen für eine Hinwendung zum sogenannten Streckbetrieb sprechen: „Und jetzt schauen wir uns an, ob dieses Jahr so extrem ist, dass dafür noch mal neu ein Szenario aufgemacht werden soll“, sagte Habeck in diesem Zusammenhang, um die Atomkraftweiternutzung wieder offen zu halten.

Doch das Problem der Grünen und damit Deutschlands ist ihre absolute Priorität einer indirekten Teilhabe Deutschlands am Ukrainekrieg, um die durch den russischen Einmarsch bedrohte Ukraine zu unterstützen. Denn der Krieg wird sich nicht nach der Gebrauchs-Restdauer deutscher Brennstäbe richten. Und wie sehr das ohnehin inzwischen als vorrangig angestrebte Ziel einer Sofortabnabelung von russischen Rohstoffimporten auch noch irgendwann nach einem Waffenstillstand das Abschalten der letzten deutschen AKW als vereinbar erscheinen lässt, ist mehr als nur fraglich. Denn Kriterien, unter welchen Bedingungen die Energiewende- und Klimaschutzpolitik wieder Vorrang erhalten könnte, wagt derzeit kein Politiker vorzutragen.

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