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Intelligente Windturbinen

Autonome Einzelkämpfer

Tilman WEber

Schon vor gut fünf Jahren hatte Siemens bei Vorträgen laut über intelligente Windturbinen nachgedacht, die ihre Ertragschancen ausreizen. Die noch nicht mit Gamesa vereinigte Siemens-Windkraftsparte empfahl für die damals neuesten Turbinentypen an Land den Power Boost: Eine Echtzeitkalkulation der Lasten auf den Turbinenkomponenten aufgrund gemessener Windbedingungen und Anlagenvibrationen soll mehr Strom erzeugen lassen. Bei geringen Lasten erlaubt die Anlagensteuerung höhere Rotor-Drehzahlen, als die Anlagenlimits es vorsahen. Der Leistungsschubmodus erhöhe den Nominalertrag um bis zu fünf Prozent.

Und mit einem mutigen „An die Design-Grenzen gehen …“ bewarb Siemens Gamesa 2019 die Adaptive Control Strategy (ACS) des gesamten Windparks. Diese anpassungsfähige Steuerungsstrategie ersetzt auf Kundenwunsch den Sektorenfahrplan: In welliger Landschaft und bei Windstörungen durch Nachbaranlagen berücksichtigte die Windparksteuerung je nach Windrichtung bisher Sektoren mit besonders großen Strömungsturbulenzen. Bei entsprechendem Wind schaltete sie zur Sicherheit den Sektor ab – und vermied Überlastungen der Komponenten und unnötige Wartungskosten. ACS verlangsamt dagegen nur die Leistungszunahme der Turbine bei zunehmendem Wind gemäß simulierter Echtzeitlasten. Es zieht dafür Daten aus Schwingungssensoren in der Anlage und verfügbare Quellen wie Umgebungstemperatur, Luftdichte oder Betriebstemperaturen der Komponenten heran.

Obwohl aber Siemens Gamesa ein Potenzial von bis zu 7,5 Prozent mehr Jahresertrag kalkuliert, hat sich vollautomatisiertes Ausreizen offenbar noch nicht durchgesetzt. Ursula Smolka vergleicht es mit dem autonomen Fahren in führerlosen Autos: „Das Scharfschalten im breiten Einsatz ohne restliche menschliche Kontrolle wird es erst bei ausreichender Sicherheit über die Verlässlichkeit der Technologie geben“, sagt die Leiterin des Offshore Wind Asset Managements beim Ingenieurdienstunternehmen Ramboll (siehe Interview Seite 44).

Tatsächlich bedarf es für die individuelle digitalisierte Anlagensteuerung nicht nur eines guten Programmierers – sondern auch zweier neuer Werkzeuge. Während das eine als Big-Data-Analyse zum allgegenwärtigen Schlagwort geworden ist, ist der digitale Zwilling als zweites Werkzeug in technischen Bereichen wie der Brückenüberwachung gang und gäbe. Ursula Smolka dürfte wissen, wovon sie spricht: Ramboll sammelt Erfahrung mit beiden Werkzeugen durch eigene Forschung und in Forschungskonsortien. So wertete Ramboll Anfang 2021 den Pilotversuch seines True Digital Twins im Ostseewindpark Wikinger aus. In einer Zeitraffer-Simulation stellten die Hamburger die 20-jährige Nutzung des Unterwasserfundamentes einer Anlage nach. Den „wahren digitalen Zwilling“ fütterten sie aus Schwingungssensoren am Fundament und in der Windenergieanlage sowie aus einer auch Wetterdaten sammelnden Datenwolke. Ihr Fazit lautet: Der True Digital Twin ließ die Zahl der Fahrten durch Wartungs-Teams um die Hälfte reduzieren – und die Lebenszeit des Fundaments verlängern.

Im Forschungsprojekt Wisa Big Data beim Wind- energieinstitut Fraunhofer Iwes erforscht Ramboll zudem seit Ende 2019 mit Industriepartnern, wie sich die fehlende Sicherheit über die Verlässlichkeit der Technologie erreichen lässt. Die Iwes-Forscher selbst brechen das Thema lieber auf die Qualität verfügbarer Daten herunter: Vor dem autonomen Betrieb von Einzelanlagen müsse das Potenzial „von schon vorhandenen Daten an Wind- energieanlagen in Bezug auf Fehlerfrüherkennung“ klar werden, sagt Timo Lichtenstein, Ansprechpartner im Projekt. Die Big-Data-Analyse solle ohne weitere kostspielige Zustandsüberwachungssensoren, die Condition Monitoring Systeme (CMS), auskommen, sagt Lichtenstein. Sie solle „datengestützte Entscheidungshilfen für Betreiber“ verschaffen, „die noch von Menschen beurteilt und umgesetzt werden müssen“. Die Innovation bestehe vor allem darin, künftig mit „hochaufgelösten Betriebsdaten“ im Sekundentakt aus der sogenannten allgemeinen Scada-Betriebsüberwachung zu arbeiten. Bisher bunkerten Scada-Systeme von überallher gesammelte Daten nur als Zehn-Minuten-Mittelwerte.

Ohnehin ist autonome individuelle Windturbinensteuerung ein Unterfangen, bei dem es um mehr als die drei Raumdimensionen der drehenden Anlage im Wetter- und Zeitgeschehen geht. Denn die computersimulierten Anlagenzwillinge müssen auch menschliches Verhalten in Betrieb und Wartung oder die Vorgeschichte einer Komponente in Fertigung und Transport berücksichtigen. Darauf deutet das parallele Iwes-Projekt Digma hin: Für eine kluge Instandhaltungsstrategie brauche der Wartungsdienst auch „die detaillierte Analyse historischer Instandhaltungsberichte“, sagt die Digma-Projektzuständige Julia Walgern. Nur wenn bekannt ist, wer wann und wie die Anlage gepflegt hat, können digitale Zwillinge auch die Widerstandsfähigkeit der Turbine gegen Verschleiß einbeziehen. Digma soll die oft als Freitexte geschriebenen Instandhaltungsberichte in digital berechenbare Abnutzungs- und Genesungsdaten der Turbine umwandeln.

Das deutsch-dänische Konsortium Reliablade erkundet die volle Komplexität der digitalen Kontrolle am Rotorblatt. Hier geht im Oktober eine vierjährige Entwicklungsarbeit zu Ende. Auch Siemens Gamesa ist beteiligt. Als „langfristige Vision“ wertet der Leiter der Abteilung Rotorblätter beim Fraunhofer Iwes, Steffen Czichon, den digitalen Zwilling vom Rotorblatt. Dafür brauchen die Entwickler auch die Daten der Fertigung. „Da müssen viele Tonnen Material in wenigen Stunden eingebracht werden. Der Prozess ist daher nicht mit einer präzisen Flugzeugproduktion vergleichbar“, sagt Czichon. Reliablade soll nun die Simulation eines ermüdenden Rotorblattes mit einem digitalen Fingerabdruck seiner Fertigung wirklichkeitsnäher auslegen.

Reicht es dann zum klügeren Windparkbetrieb? Kann eine Adaptive Control Strategy in Momenten unwirtschaftlich niedriger Stromhandelspreise gezielt die am wenigsten verbrauchten Windturbinen betreiben, um nur das für aktuelle Stromlieferverpflichtungen notwendige Minimum zu erzeugen?

Die Realität dürfte derzeit näher am Alltag von Siemens-Gamesa-Experte Henrik Pedersen sein. Er ist Solution Architect im Bereich Diagnostics Intelligence. Für eine Diagnose bei von Scada und CMS gemeldeten Unregelmäßigkeiten betreibt er seit „mehr als zehn Jahren“ eigens entwickelte digitale Zwillinge vieler Komponenten. Seine Einheit betreibt sie offline – ohne Verbindung zur Windturbine. Mit Hilfe dieser digitalen Zwillinge könne er von Tausenden durch Scada und CMS gemeldeten Vorfällen pro Woche die notwendigen Tickets für Reparaturen auf 100 reduzieren, sagt Pedersen. Er betrachtet seine Offline-Simulationen als regelmäßige medizinische Berichte. Sie geben Rat zur Heilung auch für Design und Produktion: Wo hatten diese die zu schnelle Alterung der Komponente mitverursacht? Was wäre zu verbessern?

Auch Deutsche Windtechnik nimmt an Wisa Big Data teil. Die Bremer Wartungsdienstleister erhoffen sich, „Serviceeinsätze so vorausschauend wie möglich zu planen“. „Mit allen vorhandenen Daten und Sensoren“ wollen sie „die Analysen fahren und Einschätzungen und Planungen erstellen“, die Abnutzung der Bauteile präzise vorhersehen und sie rechtzeitig reparieren. Dafür haben sie nun ein eigenes Berechnungsprogramm entwickelt.

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