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NEW 4.0: Modellprojekt Grünstromvollversorgung

Nordregion mit Millionenstadt 100 Prozent erneuerbar versorgt

Das Modellprojekt hat große visionäre Kraft: Die Quote der windkraftstarken Region von heute 40 Prozent Stromversorgung aus erneuerbaren Energien soll bis 2025 zunächst auf 70 Prozent anwachsen. 2035 soll dann die Vollversorgung mit Grünstrom stehen. Vorantreiben will dies die im Mai ausgerufene Innovationsallianz NEW 4.0 (Abkürzung für Norddeutsche Energie-Wende 4.0). Ihr gehören rund 60 Unternehmen, Forschungsinstitute, Hochschulen, die Bundesländer Hamburg und Schleswig-Holstein, regionale Industrie- und Handelskammern und kommunale Vertreter an. Die Initiative will nicht nur ausreichenden Ausbau der Stromerzeugung durch immer neue Windparks garantieren, sondern auch die notwendige Infrastruktur für den Stromtransport aufbauen: Intelligente Netze, moderne Computertechnologie, ein flexibles schnelles Stromhandelssystem, Speicher.

Die Initiatoren von NEW 4.0 sind die Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) mit ihrem Erneuerbare-Energien-Kompetenzzentrum CCEE und das Fraunhofer Institut für Siliziumtechnologie, ISIT. ISIT betreibt Forschung an Leistungs- und Mikro-Elektronik. Am Freitag hatten sie den Antrag auf Zuschüsse aus dem Förderprogramm „Schaufenster intelligente Energie – Wind“ beim Bundeswirtschaftsministerium eingereicht. Das brächte eine Forschungsförderung von 80 Millionen ein, die Akteure müssten noch 40 Millionen Euro dazu investieren. „In den nächsten Wochen wird das Ministerium entscheiden, welche Antragssteller in die engere Auswahl kommen und den Vollantrag für die Förderung stellen dürfen“, sagt der HAW-Professor Werner Beba zu ERNEUERBARE ENERGIEN. Die Entscheidung über den Zuschlag falle dann im Herbst. „Erhält NEW 4.0 die Förderung“, sagt Beba, „wollen wir 2016 starten.“

Während einer Projektlaufzeit von vier Jahren könnten die Akteure so neue Computerprogramme zur Steuerung eines effektiven Stromhandels entwickeln, Modelle für virtuelle Kraftwerke ausarbeiten – also das computergesteuerte Ab- und Zuschalten ans Stromnetz von Grünstrom-Anlagen im Einklang mit dem regionalen Verbrauch – und den Speicherbedarf  für die angestrebte Vollversorgung ermitteln.

Vollversorgung mit Grünstrom plus europäischer Stromhandel

Das Konzept sieht keine einfache – und unrealistische – Insellösung vor. Es müsse nicht immer 100-prozentiger Ökostrom durch die Trassen zwischen  Nord- und Ostsee pulsieren, betont Beba. Vielmehr soll NEW 4.0 ein Modell für Deutschland und sogar Europa sein. Die Norddeutsche Energiewende muss so auch 2035 – unter Grünstromvollversorgung – die Einbindung ins europäische Stromhandelssystem gewährleisten. Kaufen Stromhändler Grünstrom am Regelenergiemarkt oder vom Day-Ahead-Börsenhandel zur Versorgung der Region hoch im deutschen Norden, müssen auch ihre Netze weiterhin den durch Erzeugung aus Kohle-Kraftwerken angemixten Graustrom aufnehmen können. Das gilt umgekehrt auch für das neue Hamburger Vattenfall-Kohlekraftwerk Moorburg, dessen Leistung am Netz verbliebe, um zudem Strom in andere deutsche und internationale Regionen zu exportieren.

Für den Aufbau von genug Leistungskraft der Erneuerbaren setzen die Initiatoren nur auf die Ausbauszenarien der Landesregierungen in Schleswig-Holstein und Hamburg sowie die Offshore-Windkraft-Ziele der Bundesregierung. Derzeit liefern die Erneuerbaren beider Nordländer laut Beba rund 13 bis 14 Terawattstunden (TWh) jährlich bei einem Bedarf von jeweils 14 TWh: also 28 TWh. Für 2035 rechnet NEW 4.0 mit bis zu 70 TWh aus bis dahin errichteten regionalen Erneuerbare-Energien-Anlagen. Es würde für die Region mitsamt Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole und deren Industrie inklusive zweier stromintensiver Aluminiumwerke genügen,  sagt Beba. Doch ohne ein völlig neu designtes Stromversorgungssystem, so prognostizieren die Wissenschaftler, würden die Netzbetreiber dann 15 Prozent der Grünstromerzeugung wegen überfüllter Netze abregeln müssen. Ziel von NEW 4.0 ist, 2035 fast keinen Strom aus erneuerbaren Energien mehr wegwerfen zu müssen.

System ohne konventionelle Reserveleistung

Die Hamburger Wissenschaftler wollen dazu über die Umwandlung Erneuerbaren-Stroms in Treibstoff nachdenken – durch Elektromobilität oder mittels Umwandlung überschüssigen Stroms in Erdgas. Sie wollen Speicherkonzepte genauso entwerfen wie eine Steuerung des Verbrauchs der Hamburger Aluminiumwerke in Abhängigkeit von der Erzeugung. „Sonst drohen 2035 Sprünge bei der Schnell-Bereitstellung von Stromleistung aus Reservekraftwerken von zwei Gigawatt“, sagt Beba: zum Ausgleich der Residuallasten – durch fluktuierende Einspeisung aus wetterabhängigen Erneuerbaren-Anlagen nicht befriedigten Stromverbrauch. Reservekraftwerke mit einer Jahresproduktion von sieben TWh müssten so die Stromversorgung weiter stützen. Die Forscher wollen darauf verzichten können. „Wir wollen 2035 keine konventionelle Deckung der Residuallast mehr“, sagt Beba.

„Im Kern geht es NEW 4.0 darum, Konzepte zu erproben. Die Bundesregierung muss beim Systemumbau sehr vorsichtig sein, um auch im europäischen Stromhandel kein Chaos und keine unerwünschten Nebenwirkungen zu erzielen. Mit NEW 4.0 könnten wir vorführen, wie sich die Flexibilität im Strommarkt auch bei einer 100-Prozent-Grünstromversorgung erhalten und sich in ein Marktsystem integrieren lässt.“

(Tilman Weber)

Hören Sie hier, wie Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Reinhard Meyer und sein das Umweltressort leitender Kabinettspartner Robert Habeck am 2. Juni vor der EU-Kommission das Projekt NEW 4.0 begründeten:

SH-Wirtschaftsminister Reinhard Meyer, 02. Juni, Brüssel SH-Wirtschaftsminister Reinhard Meyer, 02. Juni, Brüssel Wirtschaftsministerium Schleswig-Holstein (Audio und Foto)