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Bundesverkehrswegeplanung

Wer Straßen säht, wird Verkehr ernten – Politische Tricksereien im Bundesverkehrswegeplan

Die deutsche Verkehrsbilanz der letzten Jahre ist ernüchternd: Mehr Straßen, mehr Verkehr, mehr giftige Stickoxidausstöße liegen im Trend und auch die neue Bundesregierung kann sich nicht auf ein Tempolimit einigen. Der Rest Europas widmet sich währenddessen der Hochgeschwindigkeits-Schieneninfrastruktur, setzt strikte Geschwindigkeitsbegrenzungen innerorts wie außerorts um, forciert die moderne Stadtplanung und reduziert Inlandsflüge. Vielerorts zeigt sich dabei: Eine nachhaltige Mobilität bringt Vorteile für alle.

Hierzulande gilt immer noch das 70er-Jahre-Ideal „Freie Fahrt für freie Bürger!“. Dabei verursacht der Autoverkehr drei- bis fünfmal höhere externe Kosten als öffentliche Verkehrsmittel, also Kosten, welche nicht die Verursacher*innen, sondern die Gesellschaft trägt. Darunter fallen Lärmbelastung, frühzeitige Tode durch Feinstaubbelastung, Unfälle, ungerechte Flächenverteilung in Städten und natürlich die unverhältnismäßig hohe Klimabelastung. Kurzum: Die deutsche Verkehrspolitik orientiert sich immer noch am Wohl des privaten Automobils, anstatt den Menschen in den Vordergrund zu rücken.

Der Bundesverkehrswegeplan – ein zweischneidiges Schwert

Nationale Verkehrspläne sind die international übliche Maßnahme, um Verkehrsströme langfristig zu steuern und das System an den Bedürfnissen der Nutzer*innen auszurichten. 2016 wurden mit dem „Bundesverkehrswegeplan 2030“ (BVWP2030) die aktuellen Aus- und Neubaumaßnahmen der deutschen Verkehrsinfrastruktur beschlossen. Dem politischen Beschluss gehen jahrelange Forschungs- und Beratungsprozesse voraus, wobei die klassischen Methoden der Verkehrsplanung angewandt wurden. Sie lassen sich vereinfacht in vier Schritten zusammenfassen: 1) Definition einer Vision für das Zielsystem; 2) Modellierung des Zielsystems und dessen Kapazitätsengpässen; 3) Erarbeitung von Maßnahmen zur Engpassbeseitigung; 4) Evaluierung der Maßnahmen anhand gegebener Zielgrößen.

An diesen Schritten ist einfach zu erkennen, dass alles von der Vision des Zielsystems abhängt. Will man nichts ändern, muss man die heutige Verkehrslage lediglich in die Zukunft projizieren und die Engpässe auf die kostengünstigste Weise beseitigen. Im BVWP2030 ist sogar eine scheinbar nachhaltige Zielvision zu finden, die mit europäischem Standard mithalten kann. Verfolgte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) alle Ziele des Plans, würde das deutsche Verkehrssystem bald wesentlich gerechter und nachhaltiger aussehen. Die politischen Tricksereien fangen in der Übersetzung dieser Ziele an; die davon „abgeleiteten Ziele“.

Klimaschutz ad absurdum: Der Trick mit der Engpassbeseitigung

Beispielsweise übersetzt sich das vierte übergeordnete Ziel „Reduktionen von Schadstoffen und Klimagasen“ zuallererst in „Verbesserung Verkehrsfluss/Engpassbeseitigung“. Diese „Lösungsstrategie“ findet sich in der Hälfte aller Zielstellungen wieder und mag für das ein oder andere Ohr sinnvoll klingen. Tatsächlich stoßen Autos mit Verbrennungsmotoren während eines Staus mehr Schadstoffe aus, als wenn sich die Geschwindigkeit des Verkehrs an einem Tempolimit orientiert. Und tatsächlich hat der Verband der Deutschen Automobilindustrie vor Start des BVWP2030 eine Studie zur „CO2-Einsparung durch Verflüssigung des Verkehrsablaufs“ veröffentlicht.

Das ist starke Lobbyarbeit, jedoch ist die Verbesserung des Straßenverkehrsflusses unbedeutend gegenüber den beiden international anerkannten Maßnahmenkategorien zur Minderung der Treibhausgase: Verlagerung auf klimafreundlichere Alternativen und Vermeidung unnötigen Verkehrs. Das Problem dabei: Ergebnis dieser Trickserei ist die Begründung für neue Straßenbauprojekte, auf deren Basis die Politik ihre Investitionsentscheidungen trifft.

In automobilis veritas – mit Scheuklappen durch den Autojungel

Ein weiteres Beispiel: Das am häufigsten abgeleitete Ziel des BVWP2030 ist die „Erhaltung und Modernisierung der Substanz“. Sogar Ziel Nummer drei, die „Erhöhung der Verkehrssicherheit“, scheint mit neuen Autobahnstreifen mehr zu tun zu haben als mit der Verlagerung des Verkehrs auf sicherere Verkehrsmittel oder gar einem Tempolimit. Kosteneinsparungen werden hier als Vorhalteargument genutzt, um das existierende Straßennetz besser auszubauen, anstatt eine nachhaltige Transportinfrastruktur aufzubauen.

Das Resultat verwundert nicht: Im BVWP2030 wird ein weiterer Aus- und Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen beschlossen (936 Bauprojekte; 7.100 km), während der Schienenverkehr weiterhin vernachlässigt wird (63 Bauprojekte mit 500 km Neubau, 1.600 km Ausbau). Dieser Neubau von Straßen führt zu noch mehr Verkehr und damit noch mehr Treibhausgasemissionen, was auch in der Modellierungsstudie explizit genannt wird. Allerdings werden Suffizienzmaßnahmen, also eine Verkehrsvermeidung bei gleichzeitiger Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse, kategorisch aus der Analyse ausgeschlossen, denn sie bedürfen einem politischen Willen.

Das Auto als impliziter Nutzen des Verkehrssystems

Doch fehlende Nachhaltigkeit in den Zielstellungen könnte durch die Bewertung der Alternativen nach relevanten Indikatoren kompensiert werden. Natürlich wird auch der Ausbau der Schieneninfrastruktur untersucht und gegenüber den Straßenalternativen bewertet. Dabei wird gemäß den wissenschaftlichen Standards versucht, den Alternativen einen „Nutzenwert“ anzurechnen. Dieser besteht aus dem Diskomfort durch Reisezeit und Reisekosten, sowie einem „Impliziten Nutzen“ durch die Wahl des Verkehrsmittels. Solche Faktoren sind in Verkehrsmodellen nötig, um nicht-rationale, individuelle und soziokulturelle Mobilitätsentscheidungen besser abbilden zu können.

In der abschließenden Bewertung der vorgeschlagenen Baumaßnahmen werden deren Kosten gegenüber dem Nutzenwert und den berechneten Umweltschäden abgewägt. Wie zu erwarten, sind die Umweltschäden durch Straßenbaumaßnahmen in den meisten Fällen wesentlich höher, was jedoch nicht in den Ergebnissen zu sehen ist. Der Trick ist hier, den Impliziten Nutzen, also die heutige Mobilitätskultur, zu quantifizieren und damit das Verkehrssystem von Morgen zu begründen. Das ist nur schwer logisch nachzuvollziehen, wenn die übergeordneten Ziele auf eine nachhaltigere Mobilität abzielen.

Zeit für neue Maßstäbe – und eine neue Hausleitung

Der wissenschaftliche Teil des BVWP2030 ist in sich konsistent und seine Methoden objektiv korrekt. Allerdings hängt das Ergebnis immer von der Fragestellung ab. Die hoch komplexe Bundesverkehrswegeplanung wurde eindeutig vom Ideal des privaten Automobils geprägt, weshalb das Ergebnis dieses auch fördert. Der BVWP2030 sieht verkehrsbedingte Emissionen in Höhe von 190 Mio. tCO2eq voraus, was in starkem Kontrast zu den Zielen der alten Bundesregierung steht: 85 Mio. tCO2eq. Und selbst diese sind nicht ansatzweise kompatibel mit dem 1,5°-Ziel.

Dieses eklatante Beispiel zeigt, dass Klimaschutz, Energiebedarf und Verkehr in Zukunft auf ministerieller Ebene zusammen geplant werden müssen. Der nächste Bundesverkehrswegeplan steht an und ist auch während der aktuellen Koalitionsverhandlungen ein heiß umkämpftes Thema. Zwölf Jahre wurde das BMVI von der CSU geführt. Nun können wir hoffen, dass sich die deutsche Verkehrspolitik an die europäischen Standards herantastet. Denn nur mit einer radikalen Kehrtwende können wir auch hierzulande von weniger Luft- und Lärmbelastung, lebendigeren Ortschaften, lebenswerten Innenstädten und einem gerechten Beitrag zum Klimaschutz profitieren.

Autor: Marlin Arnz ist Doktorand am Fachgebiet für Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik der TU Berlin und Teil des Graduiertenkollegs EnergieSystemWende am Reiner Lemoine Institut, gefördert von der Reiner-Lemoine-Stiftung. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung der Mobilitätswende für die Dekarbonisierung des Verkehrssektors mittels Verkehrs- und Energiemodellierung. Ein weiterer Artikel zur EnergieSystemWende hier und zur Reiner Lemoine Stiftung.

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