Drohnen für eine Untersuchung des Strömungsnachlaufs hinter einer Windturbine durch das DLR im Forschungsprojekt Near Wake
Digitalisierung lässt Verteilung, Erzeugung und Umwandlung elektrischer Energie so sicher und komplex werden, wie es die Energiewende braucht.
Tilman Weber
Klassische Unternehmensberatung hilft der Wirtschaft schon seit Jahrzehnten dabei, dass neu eingerichtete Management-Computerprogramme wirklich Nutzen bringen. Consulter zeigen den Unternehmen, wie sie damit Aufträge effizienter und personalsparend erledigen. Nun verlangt offenbar die Digitalisierung auch beim Erzeugen und Verteilen grünen Stroms neue Consulting-Dienste. Anfang November schuf das traditionelle Energiewende-Consultingunternehmen BET in Aachen dafür die Tochterfirma BET Solutions GmbH: Das brauche die Energiewelt, teilte BET sinngemäß mit, damit die anschwellende elektronische Datenverarbeitung die dezentrale Versorgung mit Solar- und Windstrom, aus Batterien und flexiblen Reservekraftwerken wirtschaftlich, zuverlässig und automatisiert erfolgen lasse.
„IT-Architektur, Datenmanagement oder sichere Kommunikation erfordert immer eine Ende-zu-Ende-Sicht, von der Idee, Strategie über Planung und Implementierung bis zur Inbetriebnahme und der Übergabe in den Betrieb“, sagt Thomas Kähler. Er ist der Geschäftsführer der neuen BET-Einheit. Kähler will zunächst Stromnetzbetreiber, dann auch Windkraft- und Solaranlagenbetreiber beraten, wie sie Digitalisierung so umsetzen, dass sie mehr Kilowattstunden und Einnahmen, weniger Kosten oder eben eine bessere Netzauslastung und sichere Versorgung gewinnen.
12 Forschungsprojekte zur Digitalisierung speziell der Windkraft betreibt aktuell alleine das Windkraftinstitut Fraunhofer IWES. Das Boom-Thema spielt bei der Automatisierung eines flexibleren Betriebs der Stromnetze eine große Rolle.
BET Solutions soll im Zusammenspiel mit anderen Experten bei BET das Umsetzen der vielleicht zuvor schon von BET empfohlenen Digitalisierungsschritte begleiten. Dazu gehört eine von Anfang an richtige Speicherung der Daten. Zudem zielt die Solutions GmbH auf die Funktionsfähigkeit einer Smart-Meter-Infrastruktur für intelligente Stromzähler, um den Stromverbrauch durchs Zu- oder Abschalten elektrischer Geräte im Einklang mit dem Grünstromvorkommen und günstigen Börsenstrompreisen zu steuern, auf deren Sicherheit gegen Hack-Attacken – oder auf kluge digitale Überwachung der Anschlüsse von Photovoltaik- oder Windparks und ihrer für die Qualität der elektrischen Sinuskurven wichtigen Wechselrichter. Die nach Plan bis Ende 2026 auf 10 bis 20 Mitarbeitende anwachsende BET-Tochter soll auch noch die Fernsteuerung der Anlagen durch die Netzbetreiber „IT-technisch“ sicher und wirtschaftlich gestalten helfen: Wie erfolgt die Datenübergabe an den für die Fernsteuerung im sogenannten Redispatch-2.0-Gesetz vorgesehenen „Einsatzverantwortlichen“? Lassen sich digitale Zwillinge einbinden, um an deren idealen Betriebsdaten orientiert Grünstromanlage und Netz auszusteuern? „Und wie schaltet der Netzbetreiber die Anlagen an und ab?“ So skizziert Kähler die von ihm anvisierten Jobs.
Neue Energiewelt verlangt digitales Regeln
Dass die unwiderrufliche Digitalisierung der Energiewende immer weiter verfeinerte Datenverarbeitung und Kontrolle braucht, liegt auf der Hand. Wenn Elektrizität durch Ladestationen, Wärmepumpen, Photovoltaik (PV) oder Speicher in bald größeren Volumen im Gegenverkehr mal von den Stromverbrauchern zurück ins Netz und mal aus dem Netz zu den Verbrauchern fließt, wird das System komplexer. Auch dass noch Überschussstrom in die elektrische Wärmeerzeugung oder die Elektrolyse-Produktion von Wasserstoff abzugeben ist, damit der flexible, emissionsfreie und sogar für Industrieprozesse nutzbare Energieträger die Energiewende beschleunigt, braucht feine digitale Regelungen.
Davon gehen die Beteiligten in Niedersachsens Zukunftslabor Energie aus. Fünf Jahre lang haben Hochschulen und Forschungsgemeinschaften sowie als Partner eingebundene Unternehmen aus den Bereichen Energietechnik, Informatik, Netzbetrieb und Energieversorgung mit energieintensiven Industrieakteuren die neue Energiewelt überwiegend im Laborbetrieb geprobt. Die Oldenburger Professorin Astrid Nieße als Sprecherin des Verbunds nennt als Ziel die „vollständige Verwebung von Energieinfrastruktur und Digitalisierung“ – oder im Fachsprech: „Cyber Physical Energy Systems“.
Für die Simulation dieser Welt haben sie ihre Labore zusammengeschaltet: das Verteilnetzlabor der Hochschule Emden-Leer, das Labor für vernetzte Energiesysteme des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Oldenburg, die Laborinfrastruktur der Uni Oldenburg mit virtuellem Blick auch auf die klassische Fern-Datenüberwachung Scada der Grünstromanlagen zur Schadenfrüherkennung und ein Wärmelabor der Ostfalia-Hochschule Wolfenbüttel. Es geht um nicht weniger als die „Kopplung aller Systeme bis in den Privathaushalt“, sagt Nieße.
Herkulesjob Windkraftautomatisierung
Nicht zuletzt Zulieferer von Windkrafttechnik schicken nun ihre Ingenieure auf Digitalisierungskurs. Diese arbeiten im Verbund mit den Instituten sowie Digitalisierungsdienstleistern daran, mit immer ausgefeilterer Automatisierung die Effizienz der Windkraft zu erhöhen: ob durch beste Auslese der Sensordaten aus Windturbinen, durch Steuerung der Einzelanlagen und ganzer Windparks zur Reduzierung der Lasten, durch datengestützte Schadenfrüherkennung und vorbeugende Reparatur schwächelnder Bauteile, durch Simulationen von Strommarkttrends für zielgenaueren, lukrativeren Stromhandel oder durch digitale Zwillinge, die ideale Betriebszustände bis auf Bauteilebene simulieren, um sie dann durch Wartung, angepasste Designs oder korrigierte Steuerung zu erreichen.
Die Konjunktur des Themas zeigt sich an den Instituten. So hat allein das Windenergieforschungsinstitut Fraunhofer IWES seit 2020 und insbesondere 2022 in schneller Folge 18 Forschungsvorhaben zur Digitalisierung in Zusammenarbeit mit Unternehmen gestartet. Sechs sind schon abgeschlossen, in einem Dutzend findet aktuell Forschungsarbeit statt: zum Beispiel zur Analyse von Lasteinwirkungen auf Rotorblätter und zu deren Vermeidung oder für die genauere Kenntnis der Luftströmungen oder für genauere Rotorblattauslegung.
10 Mal schneller gelingt es dank der mit KI verbundenen fortentwickelten Elektrotechnik Ethercat, elektrische Sinuskurven wieder zu synchronisieren, die sich aufgrund langer Leitungswege ungleich verschoben haben.
Die Beteiligten des Forschungsvorhabens Wind-X kümmern sich derweil um eine schnellere handfeste Organisation der Lieferkette der Großkomponenten. Nach Start im November vorigen Jahres unter der organisatorischen Führung der Hochschule RWTH Aachen wollen sie bis Ende Juli 2027 einen Datenraum „entlang der gesamten Wertschöpfungskette“ schaffen, der für jede Komponente standardisierte Datensätze bereitstellt. Wenn Projektierungsunternehmen einen Transport von Turbinenbauteilen zur Windparkbaustelle organisieren, wenn Turbinenbauer ihre Bauteile kaufen, wenn Parkbetreiber die Rotorblätter rückgebauterAltanlagen recyceln lassen, schicken sie sich nach dem Willen der Wind-X-Partner künftig dafür definierte Datensätze zu. Das würde die Kommunikation enorm beschleunigen, erklärt Projektsprecher Igor Garmaev. „Wo bisher viele Komponentendaten über PDF oder als Excel-Daten von Mensch zu Mensch gingen und Menschen dann diese Daten irgendwo in einen Rechner eingaben, wollen wir diesen Schritt überspringen.“ Stattdessen sollen sogenannte digitale Verwaltungsschalen die Leistungs- und Größenmaße von Komponenten identifizieren, die Komponenten virtuell automatisch eintüten und Mausklick um Mausklick die echte Lieferkette in Gang setzen. Später könnten vielleicht nicht profitgebundene Organisationen diesen digitalen Logistikraum für die Branche betreiben, sagt Garmaev.
Die IT-Anbieter haben die logistischen Bedarfe erkannt und bewerben Programme dazu schon auf Windkraftmessen wie im September in Husum im neuen Ausstellungszelt Future & Innovation. Hier stellte ein Vertriebschef des IT-Konzerns Oracle auf der Bühne ein auf künstliche Intelligenz (KI) gestütztes, also aus aktuellen Daten lernendes Organisationsprogramm für Windparkbaustellen vor. Durch „prädiktive Analysen und KI-Daten aus früheren Windparkprojekten“ zu Ressourcenverfügbarkeit und Standortlogistik könne es „verlässliche, szenariobasierte Terminpläne erstellen“. Es identifiziere proaktiv Risikosignale wie etwa Terminüberschneidungen oder Warnungen vor verfehlten Sicherheitsvorgaben. Die Bauteams könnten jede Woche neu „Themen erkennen, die Zeitplan oder Budget beeinflussen könnten“. Sie würden dann eingreifen und teure Überziehungen sowie Ausfallzeiten vermeiden. Auch für die Wartung von Windparks soll es so ein selbstlernendes Oracle-Orga-Programm geben. Andere IT-Dienstleister bringen Datenfinder-KI in den Markt, so zum Beispiel die Tiefen-Sofortanalyse regionaler Stromnetze, um teure Fehlversuche von Netzanschlussplanungen für Wind- und PV-Parks zu vermeiden (siehe Folgeartikel).
Die vollständige Verwebung von Energieinfrastruktur und Digitalisierung.
Insbesondere in den IWES-Projekten Intelliwind und Flexiwind steuern Institutsforscher mit Unternehmen vom Windturbinenbau bis zur Grünstromvermarktung auch den breit automatisierten Windparkbetrieb an. So wollen sie in Intelliwind aus Betriebs- und womöglich wetter- oder stromnetzbezogenen Umgebungsdaten künftig Fehlerfrüherkennungen an den Anlagen und daraus folgende Einsatzpläne für Reparaturteams automatisiert ermöglichen. Doch statt hierfür selbst eine KI zu schreiben, wollen sie Entwickler an digitalen Werkzeugen ausbilden, mit denen diese individuelle KI dafür bauen können. In Flexiwind wiederum sollen Anlagen dazu befähigt werden, unnötigen Lasten im Wind auszuweichen, damit sie länger betriebsfähig bleiben.
Windschatten reduzierender Einzelanlagenbetrieb oder ein Wechsel von Windstromeinspeisung ins Netz zur Speichereinspeisung sind Teilziele anderer IWES-Automatisierungsprojekte. Hier ist auch Zulieferer Beckhoff eingebunden. Für Flexiwind stellt der Digitalisierungsspezialist Steuerungskomponenten und das Synchronisationswerkzeug Ethercat zur Verfügung, ein Beckhoff-eigener Ethernet-Feldbus. Er bewirkt, dass die Kommunikation der Anlagensteuerung die sich durch die langen Kabelstrecken hindurch verzögernde Taktung der Stromkurven ausgleicht. Diese Netzimpedanz wird bedeutender, wo es um unterschiedlich gesteuerte Anlagen oder um zwischenzeitliche Batteriespeicherung geht. Mit mehr als zehn Mal schnelleren Ausführungen binnen weniger Millisekunden im Vergleich zu gewöhnlicher Steuerung bringt das auf besser als 100 Nanosekunden synchronisierte Ethercat die Pulsmustergenerierung aller Anlagen in Einklang: die durch automatisiertes Ein- und Ausschalten von Halbleitern erzeugten Strom- und Spannungsstufen, aus denen die Wechselrichter der Erneuerbaren-Anlagen vor dem Einspeisen die für die Stromqualität entscheidenden Sinuskurven formen.
Reale Leistungskurve dank Datenauslese
Auch effektivere Erzeugung hat die Branche sich als Digitalisierungsziel ausgeguckt. Das verspricht Wind-KI. Mit maschinellem Lernen sollen Windturbinen in diesem IWES-Projekt ihre am konkreten Windstandort entstehende Leistungskurve errechnen. Dann soll die Anlagensteuerung die Turbine gemäß dieser Kurve präziser ausregeln und viele Vorteile einfahren: „Im Erfolgsfall ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten sowohl im Bereich Lebensdauer und Belastung als auch Wirtschaftlichkeit und Ertrag“, heißt es bei Wind-KI.
Wind-KI-Technologiepartner ist Latoda. Die Marburger Programmierer liefern eine Software, die aktuell aus Sensor- und Steuerungsdaten einer Testanlage sowie Windmessdaten aus einer nahen Wetterstation die wahre Windgeschwindigkeit ermittelt. Weil gewöhnliche Windmessung auf einer Windturbine durch Verwirbelungen hinterm Rotor oft ungenau ist und weil die Turbinenbauer die Leistungskurven eher vorsichtig bestimmen, so glauben die Projektpartner, könnte das Errechnen des echten Winds eine steilere Leistungskurve bestätigen. Ziel wäre es dann, dass die Anlage ihre Leistungskurve voll aus- und mehr Ertrag einfahren kann.
„Wir wissen, dass neuronale Netze in der Lage sind, auch chaotische Windmuster besser zu modellieren als einfache Korrekturmodelle“, sagt Lars Osterbrink, Latodas Technikchef. Damit ließe sich der Wind sogar vorausberechnen. Das Training der KI soll binnen eines Halbjahres mittels der Sensordaten erfolgen. „Die KI sucht sich dann dafür ihre eigenen Regeln“, sagt Osterbrink.
Ob der Windparkbetrieb daraufhin ganz automatisiert arbeitet oder es noch ein Digitalisierungs-Consulting braucht, bleibt abzuwarten.
Foto: Tilman Weber
Versinnbildlichung, welchen Zwecken elektrische Signalgebung bei Weidmüller dient.
Datenräume, Taktung und Simulation
Digitalisierung der Energiewende, also der Einspeisung, Verteilung und Nutzung von Grünstrom, hat aktuell einige Hauptziele: Sie macht Informationenzugänglich. Und sie ermöglicht zeitlich präzise Technik sowie wetter-undnachfrageabhängige Erzeugung mit höheren Erträgen und Gewinnen bei weniger Verschleiß.