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Strom im Takt der Preise

Tilman Weber

Handelspreiskapriolen im tagesaktuellen Strommarkt können offenbar zu häufigen Abschaltungen von Windparks führen. Einige Anlagenbetreiber und Marktbeobachter verweisen inzwischen auf Beobachtungen insbesondere aus dem vergangenen Herbst, wonach Stromdirektvermarkter durch ihre Fernregelung die Windturbinen mitunter binnen weniger Stunden mehrfach stoppten.

Einer, der hierzu Beschwerden öffentlich machen wollte, ist Wolfgang Kiene. Der Windenergieunternehmer aus dem ostwestfälischen Brakel betreibt elf Turbinen im Weserbergland. Alle sind Altturbinen mit nur 850 Kilowatt (kW) Nennleistung. Eine zwölfte Altanlage in Kienes Portfolio mit 1.000 kW erhält bereits keine gesicherte Mindestvergütung vom Netzbetreiber gemäß den Tarifen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) mehr. Sein Unternehmen Makawind betreibt ansonsten noch eine Drei-Megawatt-Anlage vom Enercon-Typ E-101 und wird fünf Großturbinen vom Typ E-138 demnächst neu in Betrieb nehmen. 2022 habe das von ihm mit dem Börsenstromhandel beauftragte Direktvermarktungsunternehmen durchs Wegschalten insbesondere seiner Altanlagen die Einspeisung einer halben Million Kilowattstunden (kWh) verhindert, sagt Kiene.

135 Anlagenstopps allein im Oktober zählte der Brakeler Windparkbetreiber Wolfgang Kiene bei seinen Altwindturbinen.

Tatsächlich zeigt eine von ihm dafür geführte Excel-Tabelle häufige monatliche, oft tägliche, sogar viertelstündliche bis minütliche Schaltungen. Vom 21. September bis Mitte November ließ das für Makawind an der Börse handelnde Unternehmen niemals Volleinspeisung zu. Bestenfalls durften die Altwindräder 60 Prozent der Nennleistung abrufen – sehr selten mehrere Stunden lang. Der Oktober sprengte mit 135 Anlagenstopps alle Maße bei bis zu einem Dutzend Aus-/Anschaltungen täglich.

Weil Kiene keine aus seiner Perspektive ausreichend transparente Erklärung für das Schaltgebahren bekommen haben will, machte er seine eigene Analyse öffentlich. Er fand Zeitungen und Rundfunksender, die seine Vermutungen verbreiteten. Demnach hätten die Stromhändler die Einspeisung der Anlagen nicht deshalb unterbunden, um gemäß vorherrschender Strombörsenlehre einzig bei wetterbedingter überschüssiger Grünstromerzeugung keine negativen Handelspreise zu riskieren. Bei negativen Handelspreisen müssen Stromvermarkter nämlich für den von ihnen angebotenen Strom bezahlen, bekommen aber über die Vermarktungsgebühr hinaus mitunter kein Geld von den Erzeugern zurück – während diese für Zeiträume von bis zu vier Stunden einen Ausfalltarif vom Netzbetreiber erhalten. Kiene verdächtigte die Vermarktungsexperten, sie könnten durch Abschalten der Windturbinen das Zuschalten von Gaskraftwerken bewirken wollen, um besonders hohe Strompreise zu erzielen. In diesem Fall griffe der Merit-Order-Effekt: Weil die Strombörse die gehandelten Strommengen immer gemäß der im jeweiligen Moment am teuersten verkauften elektrischen Erzeugung bepreist, würden dann die hohen Gaspreise gelten. Diese sind bekanntlich 2022 bildhaft explodiert, seitdem das ehemalige Gaslieferland Russland aufgrund seiner Kriegsführung in der Ukraine für Deutschland als Exporteur nicht mehr in Frage kommt. Zwar gäbe es für den abgeschalteten Strom in solchen Momenten vielleicht nicht einmal mehr den Ausfalltarif für den Stromerzeuger. Mehreinnahmen durch den Merit-Order-Effekt würden dieses Manko aber mehr als ausgleichen, so lautet die These des Brakeler Windparkbetreibers.

„Die wollen bewusst das Gas im Stromnetz halten, damit wir den Honigpreis haben. Dann können Windstromerzeuger und Direktvermarkter je nach Dienstleistungsvertrag sogar gleichermaßen profitieren“, sagt Kiene und nennt es „Zockerei“. Vielleicht würden die Direktvermarkter die elektrische Leistung einiger Windparks sogar im Segment für Regelenergie vermarkten, um in Merit-Order-Hochpreisphasen den Netzbetreibern fehlende Erzeugungskapazitäten teuer zu liefern. Abregelungen durch den örtlichen Netzbetreiber Westfalen Weser Netz aufgrund überlasteter Stromleitungen, weil es zu viel Wind- oder Sonnenstrom gibt, sind dagegen im Erzeugungsgebiet der Makawind wohl auszuschließen. Waren Sie früher schon selten, so hat Ende 2021 hier die Stilllegung des Atomkraftwerks Grohnde sogar Netzkapazitäten für grünen Strom freigemacht. Auch weil die häufigen Regelungen die alte Technik der Makawind-Anlagen angeblich belasten, wechselte Kiene den Direktvermarkter und lässt nun Hagens Kommunalversorger Mark-E ran. Dessen Abregelungen seien seltener, nähmen aber derzeit leicht zu, lautet seine Bilanz.

Anlagenbetreiber und Direktvermarkter können aus unterschiedlichen Gründen die Erzeugung drosseln.

Auskunft der Bundesnetzagentur

2022 völlig andere Marktsituation als heute

Davor war die Paderborner Westfalenwind Strom GmbH die Handelsdienstleisterin. Westfalenwind-Pressesprecherin Sonya Harrison skizziert eine im Herbst vorigen Jahres durch besonders hohe und tiefe Preisspitzen gekennzeichnete „völlig andere Marktsituation, die nicht vergleichbar ist“ mit einer inzwischen wieder ruhigeren Strombörse. Die damals auf- und abwärts zuckenden Preiskurven hätten im sogenannten Day-Ahead-Markt zu sehr guten einen Tag im Voraus gehandelten Lieferpreisen geführt, um anderntags beim kurzfristigen Ausgleich der tags zuvor fehlkalkulierten Erzeugungsvolumen tief ins Minus zu rutschen. Bei diesem Intraday-Markt müssen Stromvermarkter wegen falsch prognostiziertem Windaufkommen fehlende Strommengen nachkaufen und überschüssige Elektrizität verschleudern. So seien 2022 Strombörsenpreise tagesaktuell manchmal von einer zur nächsten Viertelstunde von über 40 Cent pro kWh auf weniger als minus 40 Cent abgestürzt, um sofort Strom abnehmen zu lassen.

Westfalenwind wolle Grünstromanlagen immer nur abregeln, „wenn Marktpreise negativ sind, und es betriebs- und volkswirtschaftlich keinen Sinn macht, zu negativen Großhandelsmarktpreisen weiteren Strom ins Netz einzuspeisen“, lässt Harrison vom Geschäftsführer der Stromhandelssparte der Paderborner ausrichten. Mit dem „Abschalten von einzelnen Viertelstunden“ habe Westfalenwind 2022 immer wieder „einen wichtigen Beitrag zur Systemstabilität“ des Stromnetzes geleistet, zitiert sie Andreas Schmitt. Im Regelenergiemarkt setze das Unternehmen anders als bei Maka Windkraft GmbH gemutmaßt die Anlagen dagegen nie ein.

War also alles Fehlalarm? Finden vielleicht gar keine Marktpreis-getriebenen Windpark- und Solarparkdrosselungen statt, so lange der Stromhandelspreis nicht wirklich ins Minus rutscht? Oder genügen Tiefpreise knapp über null Cent, um Direktvermarkter zur Abschaltung neigen zu lassen, um dem Preissturz vorzubeugen? Können umgekehrt Grünstromhändler den Merit-Order-Effekt überhaupt anreizen und dann davon noch profitieren?

Andere Grünstromerzeuger hätten sich bei ihm mit ähnlichen Erfahrungen gemeldet, sagt Ex-Westfalenwind-Kunde Kiene. Auch die Chefin des Mitteldeutschland-Windkraftgeschäfts beim Erneuerbare-Energien-Unternehmen European Energy, Claudia Schilling, hatte sich im Frühherbst 2022 schon öffentlich verwundert gezeigt über sich häufende Abschaltungen trotz hoher Stromhandelspreise. Die „wilden Schaltungen“ hielten weiter an, sagt Claudia Schilling auf Nachfrage von ERNEUERBARE ENERGIEN. 60 mitteldeutsche Windenergieanlagen betreut ihr Betrieb von Teuchern in Sachsen-Anhalt aus und hat für die Strombörse verschiedene Vermarkter engagiert. Trotz ihrer mehrfachen Nachfragen, sagt Schilling, ließen sich diese aber nicht in die Karten schauen.

Dass Abschaltungen und Preissprünge noch keine offen ausgetragene Streitsache sind, mag wenig verwundern. Denn gerade seit 2022 profitieren alle Grünstromerzeuger durch den Merit-Order-Effekt von den hohen Preisen für fossile Energierohstoffe ganz direkt, weil sie für ihre natürliche Energiequelle bezahlen müssen. Dabei waren die Marktwerte für Strom aus Windparks an Land nach jahrelanger Stagnation bei 2 bis 4 Cent pro kWh 2022 auf ein Niveau von ganzjährig mehr als 10 Cent angewachsen, mit Spitzen bis zu 46,5 Cent. Auch im ersten Halbjahr 2023 lag der Marktwert noch stets zwischen acht und gut zehn Cent. So mögen branchenweit vorerst wenige nur über die Schattenseiten dieser vorteilhaften Marktsituation öffentlich diskutieren.

Mario Liebensteiner hat die Spur dennoch aufgenommen. Der Juniorprofessor für Energiemärkte und Energiesystemanalyse an der Universität Erlangen-Nürnberg verfolgt die Abschaltungen und Marktpreissprünge seit Ende 2022. Dafür trat er einem digitalen Branchenforum bei und ließ sich Abschaltdaten von Erneuerbare-Energien-Anlagen-Betreibern schicken, denen er Anonymität zusicherte. Liebensteiner hält den Stand seiner Forschung für noch zu vorläufig, um Aussagen treffen zu können. Er glaube, dass es einen Anreiz zur Kapazitätszurückhaltung gibt, so will er sich dennoch zitieren lassen..

„Capacity Withholding“ nennen Strommarktanalysten das Phänomen generell. Ob dieses sich noch nicht belegen lässt, weil sein Effekt auf den Stromhandelsmarkt vorerst gering bleibt oder weil nicht alle Strommvermakter das Instrument nutzen, darf dahingestellt bleiben. Der Energiemärkte-Professor vermutet aber, dass speziell „vertikal integrierte“ Direktvermarkter große Stromerzeugungskapazitäten vom Markt nehmen, einen Preissprung auslösen und mit anderen Anlagen davon profitieren könnten: große Energieversorger, die Strom handeln und erzeugen – am besten in Kraftwerken für verschiedene Energiequellen.

40 Cent positiv und 40 Cent negativ – in diesem Bereich sprangen die Preise pro Kilowattstunde Windstrom im tagesaktuellen Intradaymarkt im vergangenen Herbst auf und ab, so berichtet es die Stromdirektvermarkungssparte von Westfalenwind.

Abregelung in einzelnen Stunden lukrativ?

Den „Effekt der sehr hohen Marktwerte, die in den letzten Monaten vielmals über den anzulegenden Werten der betreffenden EEG-Anlagen lagen“ beobachtet auch ein Marktkenner, der sich vorerst nur anonym äußern will. „In einzelnen Stunden“ sei es da „lukrativ, Anlagen abzuregeln, obwohl der Strompreis noch positiv ist“ – so lange der Vermarktungsvertrag mit den Grünstromerzeugern keine hohen Kompensationszahlungen fürs Abregeln vorsieht. Andere, wie der Heidelberger Journalist und ehemalige Energiewirtschaftssprecher Udo Leuschner sind skeptisch, dass sich Merit-Order-Effekte so leicht steuern lassen. Er verweist auf die unterschiedlichen Netzebenen: Während die Erneuerbaren-Anlagen die Mittelspannungs-Verteilnetze mit Elektrizität füttern, bringen große Gaskraftwerke ihre Leistung an die Fernleitungen der Übertragungsnetze.

Dagegen kann sich der Düsseldorfer Professor Justus Haucap theoretisch vorstellen, dass Strom-Direktvermarkter den Merit-Order-Effekt auch durch regionale Abschaltungen auslösen. Haucap war 2008 bis 2012 Vorsitzender der Monopolkommission, einem Expertengremium zur Beratung der Bundesregierung zum möglichen Marktmacht-Missbrauch in Infrastrukturmärkten. Verboten sind Erzeugungsabschaltungen aus Preisgründen aber nur, wenn die Stellung des Unternehmens marktbeherrschend ist. „Das trifft auf die mittelgroßen Direktvermarkter der Grünstrombranche nicht zu“, sagt Haucap.

Vielleicht deshalb sieht die Bundesnetzagentur keinen Bedarf, das Geschehen genauer zu beobachten. „Anlagenbetreiber und Direktvermarkter können aus unterschiedlichen Gründen entscheiden, die Windkraftanlagen zu drosseln“, gibt sie Auskunft. Marktpreise könnten zu diesen Gründen gehören. Wozu sie abregeln, müssten Direktvermarkter vertraglich mit ihren Kunden vereinbaren.

Wirkliche Sorgen macht sich auch die Politik nicht. Der Windkraftexperte der SPD-Fraktion im Bundestag, Bengt Bergt, hat die Abregelungen dennoch wahrgenommen. Rund zehn Gigawattstunden Windstrom seien von Mai bis Oktober 2022 zur Zeit der höchsten Stromhandelspreise aufgrund möglicherweise preisgetriebener Abregelungen nicht ins Netz gelangt, so lauteten die ihm vorliegenden Informationen. Zum Vergleich: Energiewirt Kiene hatte im Gesamtjahr 2022 Abregelungen von 0,5 GWh verzeichnet. Bergt setzt nun auf die geplante Reform des Strommarktes inklusive einer Grüngasquote, um falsche Preissignale zu verhindern.

Preisrallye

Negativstunden blieben im Handel mit Stromlieferungen am nächsten Tag in den Herbstmonaten des vergangenen Jahres zwar komplett aus. Doch der Markt war sehr unruhig. Bis Dezember hielten die Monatsmarktwerte für Windstrom von Land noch sehr hohe Werte bis 14 Cent pro Kilowattstunde. Im tagesaktuellen Handel, dem Intraday-Markt, konnten aber auch plötzliche Minusnotierungen vorherrschen.

Westfalenwind-Chef Johannes Lackmann moniert im ZDF-Talk Markus Lanz vor dem Bundeswirtschaftsminster, wie oft Windturbinen abschalten müssen.

Foto: Markus Hertrich - ZDF

Westfalenwind-Chef Johannes Lackmann moniert im ZDF-Talk Markus Lanz vor dem Bundeswirtschaftsminster, wie oft Windturbinen abschalten müssen.

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