Nur eine Woche vor Beginn der Weltklimakonferenz COP30 in Brasilien hat die Umweltorganisation Urgewald die neue Global Oil & Gas Exit List (Gogel 2025) vorgestellt – die weltweit umfassendste Datenbank zu Öl- und Gasunternehmen. Das Fazit ist alarmierend: 96 Prozent aller Produzenten bauen ihre fossilen Aktivitäten aus, obwohl sich die Staaten auf der COP28 in Dubai darauf geeinigt hatten, den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen einzuleiten.
„Öl- und Gasunternehmen behandeln das Pariser Abkommen wie eine höfliche Empfehlung – nicht wie einen Überlebensplan“, kritisiert Nils Bartsch, Leiter der Öl- und Gasrecherche bei urgewald. Auch die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Die kurzfristigen Expansionspläne der Branche sind heute 33 Prozent höher als 2021 – und das, obwohl laut Internationaler Energieagentur keine neuen Förderfelder mehr erschlossen werden dürften, wenn die Welt im 1,5-Grad-Korridor bleiben will.
Urgewald verweist zudem auf die wachsende Kluft zwischen fossilen Investitionen und Klimafinanzierung: 60 Milliarden US-Dollar flossen in den vergangenen drei Jahren in die Exploration neuer Öl- und Gasvorkommen – das 75-Fache der Summe, die Industriestaaten in den UN-Fonds für Klimaschäden („Loss and Damage Fund“) eingezahlt haben.
„Dieses Verhalten ist unmoralisch und wirtschaftlich riskant“, erklärt Fiona Hauke von urgewald. Sie fordert, dass Aufsichtsbehörden fossile Expansion endlich als finanzielles Risiko einstufen.
Europa setzt weiter auf Gas – insbesondere Deutschland
Gerade in Europa ist die Diskrepanz zwischen Klimapolitik und Realität deutlich sichtbar. Laut Gogel planen Unternehmen auf dem Kontinent eine Ausweitung der LNG-Importkapazitäten um mehr als 50 Prozent. Besonders aktiv: Deutschland mit neuen Terminals in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven.
Dabei rechnet die Bundesregierung selbst mit sinkendem Gasbedarf. Dennoch treiben Konzerne wie RWE, EnBW und internationale Partner milliardenschwere LNG-Projekte voran. „Wer neue LNG-Importanlagen baut, befeuert die Ausbeutung neuer Gasfelder. Deutschland macht sich langfristig abhängig von fossilen Autokraten“, warnt Moritz Leiner, Energie-Campaigner bei urgewald.
Auch der Ausbau neuer Gaskraftwerke kontrastiert mit den Klimazielen der EU. Europaweit sind Projekte mit einer Kapazität von 68 Gigawatt geplant – allein 13 GW in Deutschland. Für urgewald ist klar: Das sei ein fossiler „Lock-in“, der den Übergang zu erneuerbaren Energien um Jahrzehnte verzögere. Besonders die tschechische EPH-Gruppe – über ihre Tochterunternehmen Leag und EPETr – dränge mit massiven Projekten auf den deutschen Markt.
„Die geplante Kraftwerksstrategie der Bundesregierung ist ein Freifahrtschein für die Gasindustrie“, kritisiert Leiner. Selbst eine Umrüstung auf Wasserstoff sei auf absehbare Zeit weder wirtschaftlich noch klimafreundlich realistisch.
Zwischen Rendite und Risiko: Warum fossile Energie trotzdem attraktiv bleibtTrotz drohender Klimakatastrophe fließen weiter Milliarden in fossile Infrastruktur. Der Grund liegt in den kurzfristigen Gewinnanreizen: Öl- und Gasunternehmen erzielen nach wie vor enorme Margen – gestützt durch Subventionen, schwache Regulierung und politische Unsicherheiten auf den Energiemärkten.
Für viele Anleger gilt fossile Energie daher noch immer als „sicheres Investment“, insbesondere in Zeiten geopolitischer Krisen. Selbst Banken und Versicherungen, die Nachhaltigkeit betonen, sind laut urgewald weiterhin tief in Öl- und Gasgeschäften engagiert. Nur zwei große Institute – BNP Paribas und Crédit Agricole – verzichten bislang konsequent auf Anleihen für Förderunternehmen.
Doch genau hier fordert urgewald einen Kurswechsel: „Geld ist der Treibstoff dieser Krise – und wir müssen die Zufuhr stoppen“, betont Hauke. Wenn weiter Kapital in neue Förderfelder, Pipelines oder Kraftwerke fließe, könne es keine echte Energiewende geben.
Europas Widersprüche: Klimavorreiter mit fossiler Basis
Ein Blick nach Norwegen und Österreich zeigt, wie tief die fossile Logik noch verankert ist. In Norwegen etwa steigen die Explorationsausgaben um fast 50 Prozent, ein Drittel davon in der Arktis – einem der sensibelsten Ökosysteme der Erde. Gleichzeitig inszeniert sich das Land international als Klimavorreiter.
Ähnlich widersprüchlich ist die Lage im Schwarzen Meer, wo der österreichische Konzern OMV neue Gasfelder erschließen will. Diese Projekte würden, so die Analyse von urgewald, Europas Abhängigkeit verlängern und „teure Lock-in-Effekte“ erzeugen – von neuen Pipelines bis zu fossilen Heizsystemen.
Fossile Expansion als globales Risiko – auch für Europa
Der Großteil der weltweit geplanten LNG- und Gaskraftwerksprojekte ist noch nicht finanziert, doch bereits jetzt zeigt sich: Das fossile Geschäftsmodell lebt von politischen Anreizen. Langfristige Abnahmeverträge, Subventionen und Exportkredite halten den Kreislauf am Laufen. Gogel-Daten belegen, dass viele der geplanten Anlagen bis weit in die 2050er Jahre in Betrieb blieben – also lange über das Netto-Null-Ziel der EU hinaus.
In der Folge würden Milliarden an öffentlichem wie privatem Kapital gebunden – mit dem Risiko, auf „Stranded Assets“ zu sitzen, wenn der Umstieg auf Erneuerbare beschleunigt wird.
Was jetzt passieren muss
Urgewald und ihre internationalen Partner fordern einen Investitionsstopp für fossile Projekte sowie klare EU-Vorgaben, die den Ausbau von Öl- und Gasinfrastruktur untersagen. Der Finanzsektor müsse laut Hauke „eine rote Linie ziehen“ – keine Finanzierung für neue Exploration, LNG-Terminals oder Gaskraftwerke.
Auf nationaler Ebene sollen Regierungen Subventionen für fossile Energien abbauen und gezielt öffentliche Mittel in erneuerbare Systeme, Speicher und Energieeffizienz lenken.
Deutschland, so die Organisation, könne hier vorangehen: Statt Milliarden in LNG-Terminals und neue Kraftwerke zu investieren, müsse das Land seine Ressourcen auf grünen Strom, Wärmewende und Netzausbau konzentrieren. Nur so lasse sich ein fairer Beitrag zur globalen Klimastabilität leisten – und der Weg aus der fossilen Sackgasse finden.