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Kommentar Taxonomie Pro Atomkraft

Stoppt Brüssel die EU-Energiewende?

Erst die mecklenburg-vorpommersche Windenergieorganisation Windenergie-Netzwerk MV scheint die Tragweite des Entwurfs der Europäischen Kommission zur Anerkennung der Atomkraft als nachhaltige Übergangstechnologie erkannt zu haben. Die Chefbehörde der Europäischen Union (EU) hatte nämlich tatsächlich die zu erwartende Politikferne der Bürgerinnen und Bürger beim Feiern des Jahreswechsels genutzt, um die Begünstigung von Investitionen in nukleare Kapazitäten zu befürworten. Sie will Laufzeiten bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts mit grünem EU-Label fördern lassen.

Sie nutzt dafür die sogenannte EU-Taxonomie. So nennt sich der bisher schon bestehende EU-Investitionsleitfaden, den die Kommission zum Pro-Atomkraft-Wegweiser erweitern will. Einen „schlechten Witz“, der „bitterernst gemeint ist“, erkannte das Windenergie-Netzwerk MV drei Tage später. Der Vorsitzende der Organisation, Andree Iffländer, warnt speziell davor, eine „Hochrisiko“-Technologie „mit Milliardensummen … zu subventionieren“.

Warum weder der führende Interessenverband der deutschen Windenergiewirtschaft, der Bundesverband Windenergie (BWE), noch der Solarwirtschaftsverband BSW Solar eigenständig gegen den Vorstoß der Kommission an Silvester ihre Position bezogen, ist noch nicht bekannt. Allerdings wählte auch beim Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) dessen Präsidentin Simone Peter unverständlicherweise ihre Worte eher wie eine Spitzenpolitikerin auf dem Kurs versteckter Kompromisslinien, die sie bei den Grünen einmal war, als eine Branchenvertreterin. „Ökologisch“ seien „Investitionen in atomare und fossile Energien längst nicht mehr vertretbar, da ihr Fußabdruck von Klimakrise bis ungelöster Endlagerfrage viel zu groß ist“, wertete Peter die neue Taxonomie zunächst klar als nicht sachgemäß. Die vorgeschlagene Taxonomie bewertet nämlich auch die Erdgasverstromung als nachhaltige Übergangstechnologie während des Umbaus des Energiesystems. Atom- und Gaskraft werden gemäß Konzept der EU-Kommission die schwankende Einspeisung der wetterabhängigen Wind- und Solaranlagen ergänzen und absichern.

Dann aber übernahm die BEE-Präsidentin die vermeintlich einige, neutrale und besorgte Perspektive der Energiewirtschaft insgesamt: „Ökonomisch“ stelle die Atomkraft ohnehin „schon lange keine Alternative zu den Erneuerbaren Energien dar“, bei Gaskraftwerken drohten den Investoren durch ein „irreführendes `Nachhaltigkeitslabel´“ neue Fehlinvestitionen. Um dann schon fast unbeteiligt im Konjunktiv zu empfehlen statt zu fordern: „Die Bundesregierung „sollte … die Vorschläge der EU-Kommission zurückweisen“. 

Der EU-Kommissionsvorschlag bedroht aber die Energiewende der EU. Welche Gefahr von ihm ausgeht, wollen auch bisher nur wenige der bundesweit berichtenden Wirtschaftsredaktionen wahrnehmen. Das Nachrichten-Internetportal des Telekommunikationskonzerns Telekom, T-online, kommentierte fast einzig in dieser Richtung: „Das grenzt an Wahnsinn“, überschrieb die Autorin Theresa Crysmann ihre Analyse – und bewertete die Nachhaltigkeitseinstufung der Atomkraft als „skandalös“.

Tatsächlich wirken auch die Proteste aus den Reihen der Grünen in der neuen Ampel-Regierungskoalition in Deutschland ebenso wie der Grünen aus dem Europäischen Parlament matt. Immer um Gleichbehandlung von fossiler, wegen der CO2-Emissionen klimaschädlicher Gasenergie und von Atomenergie bemüht, zielt die traditionelle Anti-Atomkraftpartei so am Kern des Skandals vorbei und nimmt ihrer Gegenwehr die nötige Härte.

Denn in der Energiewirtschaft und auch in der Energiepolitik in Deutschland gilt Gaskraft bekanntlich aufgrund geringerer CO2-Emissionen im Vergleich zu Kohlekraftwerken und aufgrund ihrer flexibleren Regelbarkeit als übergangsweise Brückentechnologie ergänzend zu den Erneuerbaren. Atomkraftwerke aber fehlt diese Regelbarkeit. Und anders als bei Atomkraftwerken lässt sich für die neuen Gaskraftwerke wie auch im Taxonomievorschlag formuliert eine allmähliche Umstellung auf die Nutzung grünen Wasserstoffs vorschreiben, produziert mit Wind- und Sonnenstrom.

Das grüne Label für eine Nachhaltigkeitseinstufung der Atomkraft-Investitionen sieht der Kommissionsvorschlag dagegen für Anlagen vor, die ihre Genehmigung noch bis 2045 erhalten. Damit würden Kraftwerke mit Laufzeiten noch bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts als grünes Investment empfohlen. Der Horizont soll so für die in der EU hauptsächlich von Frankreich geplanten Mini-Atomkraftwerke mit 300 bis 400 Megawatt (MW) Erzeugungskapazität oder Small Modular Reactors (SMR) ausreichen, die gemäß OECD-Kalkulationen erst ab 2035 mit ersten Prototypen auch in Europa entstehen könnten und wohl erst danach zu kommerziellen Projekten führen dürften. SMR sollen die Flexibilität zur Ergänzung der Erneuerbare-Energien-Einspeisung für Atomkraft erst herstellen. Für Gaskraftwerke soll die Taxonomie-Empfehlung noch bei Genehmigungen bis 2030 gelten. Auflagen wie die Klärung der Endlagerfrage verschiebt die EU-Kommission für den Atomkraftmüll sogar bis 2050. 

Es droht nicht weniger als das Ende der Energiewende in Europa. Dort stagniert der Ausbau der Windkraft bereits seit Jahren auf dem immer gleichen Niveau. Führende traditionelle Windenergieländer wie Italien, Spanien, Großbritannien und insbesondere Deutschland hatten zuletzt allesamt nach Systemwechseln bei den Ausbau- und Vergütungsregeln jeweils Einbrüche verzeichnet. Und insbesondere in Frankreich hindert der längst geplante und weiterhin verschleppte Atomkraftausstieg den schnellen Ausbau großer Windkraft- und Photovoltaik-Kapazitäten. Osteuropäische Staaten wie Polen deuten nun an, den Ausstieg aus der Nutzung alter Kohlekraftwerke durch den Großeinstieg in die Kernkraft zu ersetzen – und bei Windenergie höchstens Großprojekte im Meer zu puschen. Jüngste Ausschreibungen für Windenergie an Land ebenfalls in Polen waren schon lange die Ausnahme. Seit Jahren findet in EU-Osteuropa kein Windkraftausbau mehr statt.

Es sind aber die osteuropäischen Länder mit Frankreich, die in der EU auf die Nachhaltigkeits-Einstufung der Atomkraft drängen. Während Paris den alten abgeschriebenen Atomkraft-Anlagenpark weiter nutzen will, wollen die osteuropäischen Staaten in Frontstellung gegen den Gaslieferanten Russland zur Nukleartechnik wechseln und von dessen Lieferungen unabhängig sein.

Ein Fahrplan sieht nun die Festlegung der Taxonomie bis Monatsende vor. Bis 12. Januar bereits will die Kommission ihre endgültige Vorlage beschließen, die dann EU-Parlament und Mitgliedsstaaten bestätigen müssen. Das gegen die Atomkraft eingestellte Österreich kündigte an, eine Klage gegen den Kommissionsvorstoß zu prüfen. Denn die Taxonomieregeln sehen vor, dass nachhaltig eingestufte Energieanlageninvestitionen nicht in anderen Bereichen großen Schaden anrichten dürfen. Darauf zielt die Klagestrategie Österreichs ab: Diesen Schaden richte die Atomkraft aufgrund des radioaktiven Mülls an. Bisher schließt sich die deutsche Bundesregierung Österreichs Klagestrategie allerdings nicht an. Innerhalb der Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist nämlich die FDP nicht unbedingt gegen Atomkraft. Und die Grünen scheinen aufgrund des Koalitionsfriedens, aber auch mit Rücksicht auf ihre enge außenpolitische Bindung an militärische und wirtschaftliche Bündnispartner und deren Ziel einer Ablösung von langfristigen Handelsverflechtungen mit Russland nicht so laut werden zu wollen. „Es hätte aus unserer Sicht diese Ergänzung der Taxonomie-Regeln nicht gebraucht. Eine Zustimmung zu den neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht“, ließ sich Bundeswirtschaftsminister und Grünen-Chef Robert Habeck gleich am 1. Januar von seinem Ministerium zitieren. „Wir werden den Entwurf für den zweiten delegierten Rechtsakt in der Bundesregierung nun gemeinsam auf seine Auswirkungen hin bewerten."

Zu so einem bedächtigen koalitionsinternen Bewertungsprozess fehlt allerdings die Zeit. Eine Entscheidung der Mitgliedstaaten oder des EU-Parlaments gegen die Taxonomie nach Abgabe des finalen Vorschlags der EU-Kommission gilt als unwahrscheinlich: 20 Staaten müssten dagegen stimmen und gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße 65 Prozent der EU-Bürger vertreten. Oder es müssten mehr als die Hälfte der Abgeordneten im EU-Parlament gegen die Taxonomie stimmen. Beides ist nicht absehbar, zumal inzwischen auch die konservativ regierten Niederlande vorsichtig auf den Atomkraftkurs umschwenken.

In Deutschland ist der Atomkraftausstieg nach der Abschaltung von drei Alt-Meilern zum Jahreswechsel und der bevorstehenden Stilllegung der restlichen drei Ende 2022 zwar nicht gefährdet. Aber die Taxonomie hätte dennoch auch hier eine Wirkung: Würden doch die Mini-AKW den Druck nehmen, für Zeiten zu wenig zugeschalteter deutscher Kraftwerkskapazitäten auf gespeicherten Grünstrom zurückzugreifen und dafür heute schon benötigte Speicher zu bauen.