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Dynamische Stabilität von Stromnetzen

Das Thema Versorgungssicherheit und Stabilität der elektrischen Stromnetze wird in der öffentlichen Debatte in erster Linie in Bezug auf Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch bei einem hohen Anteil an fluktuierenden erneuerbaren Energien diskutiert. Im Fokus stehen längerfristige Perioden mit geringer Einspeisung durch Windkraft und Photovoltaik oder das Engpassmanagement bei steigenden Transiten. Doch die Erneuerbaren beeinflussen auch sehr kurzfristige Vorgänge, die sich in Zeitbereichen von Sekunden abspielen. Dies ist auf Unterschiede in der Technik zurückzuführen, mit welcher dezentrale Anlagen im Vergleich zu zentralen, thermischen Kraftwerken, wie Kohle- oder Gaskraftwerken, an das Stromnetz angeschlossen sind. Bei Letzteren werden durch Dampf- oder Gasturbinen angetrie­bene Synchrongeneratoren verwendet, die die mechanische in elektrische Energie umwandeln. Bei Ersteren kommen hingegen leistungselektroni­sche Komponenten zum Einsatz, die beispielsweise den Gleichstrom aus einem Solarmodul in Wechsel­strom umwandeln. Bei zukünftigen sehr hohen Anteilen an dezentraler Einspeisung im gesamten europäischen Verbundnetz kann das unterschiedliche dynamische Verhalten dieser Komponenten die Systemstabilität beeinflussen. Schon heute müssen daher die Weichen gestellt und die richtigen Maßnahmen in der Netzplanung ergriffen werden sowie an innovativen Werkzeugen für den zukünftigen Netzbetrieb gearbeitet werden, um die dynamische Stabilität des zukünftigen Stromnetzes zu garantieren.

Netzbildende Regelung

Die Synchrongeneratoren großer, zentraler Kraftwerke haben Eigenschaften, die sich positiv auf die dynamische Stabilität des Stromnetzes auswirken, ja sogar einen stabilen Betrieb des heutigen europäischen Netzes erst erlauben. Die rotierenden Schwungmassen der Turbinen und Generatoren (auch als Momentanreserve bezeichnet) stabilisieren die Netzfrequenz und sorgen dafür, dass diese sich in einem engen Band um den Sollwert von 50 Hertz bewegt. Bei Netzfehlern wie Kurzschlüssen sind Synchrongeneratoren in der Lage, hohe Ströme einzuspeisen. Diese Kurzschlussströme bewirken, dass sich der mit dem Fehler verbundene Spannungseinbruch weniger weit im Netz ausbreitet. Außerdem muss der Kurzschlussstrom gewisse Schwellen überschreiten, damit der Netzschutz anspricht und den Kurzschluss automatisch innerhalb von deutlich unter einer Sekunde behebt. Schließlich stellen Synchrongeneratoren sogenannte Blindleistung bereit, die in elektrischen Netzen notwendig ist, um die Netzspannung stabil zu halten.

Anlagen, welche durch Leistungselektronik an das Netz angeschlossen sind, dazu zählen neben Photovoltaik- und Windanlagen auch Batteriespeicher, bieten die genannten positiven Eigenschaften für die Netzstabilität derzeit nicht beziehungsweise nicht in gleicher Ausprägung. Seit Langem wird jedoch daran geforscht, wie sich die Anlagen zugunsten dieser Eigenschaften verbessern lassen. Insbesondere die sogenannte netzbildende Regelung von leistungselektronischen Anlagen wird in Zukunft eine entscheidende Rolle für den stabilen Netzbetrieb spielen. Dabei handelt es sich um ein Regelkonzept, welches die Schwungmasse von Synchrongeneratoren zu einem gewissen Grad emuliert. Erste Pilotprojekte mit netzbildenden Reglern wurden in Deutschland umgesetzt. Auch Gleichstromtrassen, die in Zukunft große Mengen an Energie zwischen Nord- und Süddeutschland übertragen, werden mit diesem Regelkonzept ausgestattet. Zur Bereitstellung von Blindleistung und Kurzschlussströmen ist die Installation zusätzlicher Kompensationsanlagen, sogenannter Statcoms, im Übertragungsnetz notwendig. Auch diese werden in Zukunft vermehrt netzbildend geregelt.

Roadmap zur dynamischen Stabilität

Unter der Leitung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und aktiver Mitwirkung der Industrie, Verbänden, Normungsgremien und Wissenschaft wurde bis Ende 2023 die Roadmap Systemstabilität erstellt. Eine weitere Initiative des BMWK in dieser Legislaturperiode, welche vielleicht nicht für die großen Schlagzeilen sorgt, aber von der Branche sehr positiv aufgenommen wird. Die Roadmap beschreibt detailliert, wie den Herausforderungen für die dynamische Systemstabilität bis 2030 begegnet wird. Wichtige Meilensteine sind die Einführung der marktgestützten Beschaffung von Blindleistung und Momentanreserve sowie Prüfgrundlagen zur Zertifizierung und technische Netzanschlussregeln für netzbildende Anlagen.

Ein weiterer Meilenstein sind Werkzeuge für die Sicherheitsberechnung im Netzbetrieb und für (teil-)automatisierte Gegenmaßnahmen bei Stabilitätsproblemen. In Zukunft wird vermehrt die dynamische Stabilität der limitierende Faktor sein, während es heute in der Regel die Übertragungskapazität von Betriebsmitteln ist. Die dynamische Stabilität muss somit bei den Ausfallanalysen für eine Vielzahl von Störungsszenarien, welche von den Übertragungsnetzbetreibern im Betrieb zyklisch (beispielsweise viertelstündlich) durchgeführt werden, berücksichtigt werden.

Stabilitätsbewertung durch Simulationen

Da die dynamische Stabilität zu den komplexesten Eigenschaften elektrischer Verbundnetze gehört, sind auch die Werkzeuge bzw. die Software zu deren Analyse in Planung und Betrieb entsprechend komplex. Von den Netzingenieuren werden daher zunehmend Programmierkenntnisse verlangt, zum Beispiel zur Automatisierung von Netzstudien. Open-Source-Entwicklungen können die Transparenz erhöhen und, auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, die Effizienz bei der Entwicklung der Werkzeuge verbessern. Zur Stabilitätsbewertung sind außerdem numerische Simulationen mit exakten Modellen notwendig. Anlagenhersteller legen allerdings ihre dynamischen Modelle in der Regel nicht offen. Daher muss an geeigneten Formaten und Schnittstellen für Black-Box-Modelle zum Austausch mit den Netzbetreibern gearbeitet werden.

Die veränderten dynamischen Eigenschaften von Stromnetzen mit sehr hohem Anteil an erneuerbaren Energien bringen neue Herausforderungen für Netzplanung und -betrieb. Die Roadmap Systemstabilität zeigt Lösungswege auf. Jetzt geht es an die Umsetzung. Wie in vielen anderen Bereichen der Energiewende spielen auch hier Digitalisierung und Software eine tragende Rolle.

Simon Eberlein
wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Gruppenleiter in der Gruppe Netzregelung und Netzdynamik, Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE

Bild: Fraunhofer IEE