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Autarkie

Vorschlag für ein neues Energiesystem mit Wasserstoff

Teil 1 dieses Fachaufsatzes ist am Freitag, 12.06.2020, auf erneuerbareenergien.de erschienen. In diesem zweiten Teil geht es unter anderem um eine autonome Stromversorgung.

Entwurf einer künftigen Systemarchitektur nach dem Prinzip der Bottom–Up–Strategie

Stromversorgungssysteme der geschilderten Art können als weitgehend selbstversorgende Energiezellen betrachtet werden, deren Betrieb darauf ausgerichtet ist, eine möglichst weitgehend autonome Stromversorgung verteilter Verbraucher zu gewährleisten. Dennoch kann es, beispielsweise bei lang dauernder ungünstiger Wetterlage, zu Engpässen kommen, die von den Energiezellen allein nicht mehr beherrscht werden. Dabei kann nicht nur Strommangel auftreten, sondern auch eine Überproduktion vorliegen. Um gegen solche Extremsituationen gewappnet zu sein, wird bisher zumeist die Möglichkeit einer Anschaltung an das öffentliche Netz vorgesehen.

Wir schlagen hingegen eine andere Lösung zur Beherrschung solcher Fälle vor. Der Grundgedanke besteht darin, mehrere im lokalen Umfeld vorhandene selbstversorgende Energiezellen zu einer Gesamtheit zu vereinigen und den einzelnen Mitgliedern einen schaltbaren Zugang zu einer ebenfalls vorgesehenen einfachen Stromleitung zu ermöglichen. Der Rahmen für eine solche Vereinigung kann auf unterer Ebene eine von mehreren Familien bewohnte Wohnanlage, eine Siedlung oder auch ein Dorf sein. Diese Energiezellen sollten nicht unbedingt von gleicher Art sein. Vielmehr erweist es sich als vorteilhaft, wenn in die Cluster außer Wohneinheiten auch in der Nähe befindliche landwirtschaftliche, gewerbliche oder fertigungstechnische Betriebe eingebunden werden. Auf diese Weise kommen in solchen Clustern dann Mitglieder mit unterschiedlichen Verbrauchscharakteristiken zusammen. Auch die Einbeziehung alternativer Stromerzeuger, etwa in Form von Windkraftanlagen, kann im Sinne des Ausgleichs hilfreich sein. Besonders wirksam wäre auch die Integration eines größeren singulären Stromspeichers, wofür es inzwischen auch taugliche Lösungen gibt.

Ausgleich innerhalb eines Clusters

Die Nutzung regenerativer Energiequellen bietet auch zusätzliche Möglichkeiten des Umgangs mit auftretenden Fluktuationen. Die Zuschaltung von Zellen auf das Netz ist wählbar und sollte besonderen Situationen vorbehalten bleiben. Solche Fälle entstehen beispielsweise, wenn nach Ausschöpfung sämtlicher eigener Möglichkeiten der Selbstversorgung entweder noch ein Überschuss an selbsterzeugtem Strom oder ein Defizit bei der eigenen Bedarfsdeckung besteht. Die Entscheidung darüber obliegt dem jeweiligen Energiemanager bzw. einer intelligenten Software. Die einzelnen Energiezellen können somit vorübergehend quasi zu Stromerzeugern oder auch Verbrauchern werden. Im Idealfall sind die eigene Stromerzeugung und der Verbrauch innerhalb der Zellen austariert, so dass keine Verbindung zum Minigrid besteht und somit darüber auch kein Strom ausgetauscht wird. Sollte in besonderen Situationen jedoch eine Unter- oder Überproduktion von Strom bestehen, dann kann über die Stromverbindung ein Ausgleich erfolgen. Somit verbessern sich auch die Konditionen hinsichtlich der angestrebten Energieautarkie. Außerdem erhöht sich auch die Sicherheit gegenüber Netzausfällen beziehungsweise Blackouts.

Die mit den vorstehend erläuterten Maßnahmen erreichten vorteilhaften Eigenschaften geben uns Mut, diese Vorgehensweises auch auf Gesamtheiten höherer Ordnung zu übertragen. Der nächste Schritt wäre dann die Bildung von Gesamtheiten in der Größenordnung von Gemeinden, Stadtteilen und ähnlichen Gebilden. Dies setzt wiederum voraus, dass in einer Umgebung mehrere der zuvor beschriebenen Gesamtheiten existieren, die wiederum einen schaltbaren Zugang zu einer Stromverbindung besitzen sollten. Dieser Ausbau lässt sich dann prinzipiell nach oben hin immer weiter fortsetzen, wobei zunächst der Rahmen im Umfang von Großstädten oder Ballungsgebieten und am Ende vielleicht ein ganzes Bundesland oder sogar die ganze Republik sein könnte.

Bottom–Up–Strategie

Betrachtet man die bei dem vorstehend erläuterten Systementwurf verwendete Methodik, so wurden – von der untersten Stufe, den selbstversorgenden Wohneinheiten ausgehend, – stufenweise immer umfassendere Gesamtheiten gebildet, die alle dem Bestreben folgen, sich möglichst weitgehend selbst mit Ökostrom zu versorgen. Das unserem Lösungsvorschlag zugrunde liegende Prinzip kann daher als Bottom–Up–Strategie bezeichnet werden.

Wie aus den vorstehenden Darlegungen hervorgeht, ist bei der vorgeschlagenen Systemlösung das Bestreben darauf ausgerichtet, auf jeder Ebene den maximal möglichen Ausgleich zwischen Stromangebot und Verbrauch zu erreichen. Dabei bieten diese Energiearten selbst Möglichkeiten, eigene Beiträge dazu zu leisten. Eine sinnvolle Möglichkeit besteht beispielsweise darin, bei der Windstromerzeugung Überkapazitäten vorzusehen. Dass es dabei leichter zu einer Überproduktion von Strom kommen kann, lässt sich auf einfache Weise beherrschen, indem in solchen Situationen die Produktion überschüssigen Stroms durch Verschwenken der Rotoren der Windkraftwerke aus der Strömungsrichtung verhindert wird. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme lässt sich derzeit eindrucksvoll bei Überlandfahrten beobachten. Wie ersichtlich, ist ein wesentlicher Teil der Windkraftwerke wegen des Einbruchs des Strombedarfs infolge der Corona-Pandemie aus dem Wind gedreht. Dies ist zwar eine Verschenkung von eigentlich fast kostenlos erwerbbaren Ökostroms, verhindert aber eine Netzschädigung. Im Übrigen ist die Idee der großzügigen Schaffung von Reservekapazitäten nicht neu und wird seit Jahren sogar bei der Stromerzeugung auf der Basis von Wärmekraftwerken angewandt. Dort werden vor allem während der warmen Sommermonate solche Stromerzeugungsanlagen in den Stand-Bye-Mode gebracht. Dieses dient der Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft in Notsituationen ohne Gefahr der Netzüberlastungen, sondern ermöglicht auch die Durchführung von Wartungsarbeiten in diesen Zeiten.

Die hier vorgestellte Stufenlösung lässt sich ebenfalls systemtheoretisch interpretieren. Die auf jeder Stufe gebildete Gesamtheit kann danach als ein System betrachtet werden, dessen Größe vom jeweils gewählten Systemrand bestimmt wird. Die selbstversorgenden Zellen sind dann die Komponenten solcher Systeme und damit deren Elemente. Die Interaktionen zwischen den Elementen werden hier über Stromleitungen abgewickelt, womit die potenziellen Beziehungen zwischen den Elementen beschrieben werden. Diese werden hier über das Netz abgewickelt. Nach der Systemtheorie sind System und Element relative Begriffe. Daher kann jedes Element eines Systems bei detaillierterer Betrachtung selbst auch als (Sub-)System betrachtet werden, das seinerseits Elemente enthält wie umgekehrt jedes betrachtete System auch eines der Elemente eines höheren Systems sein kann.

Ergänzende Vorschläge

Im Zusammenhang mit der Dezentralisierung und Individualisierung der Stromversorgung erinnert man sich möglicherweise der einstigen Stadtwerke. Solche zumeist auf Kohlebasis betriebenen stadteigenen Kraftwerke wurden in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in mehreren deutschen Städten, darunter auch Berlin, im Zuge der durchgängigen Elektrifizierung ihrer Kommunen errichtet. Die benötigte fossile Primärenergie musste in diesem Falle per Bahn oder auf dem Wasserweg von den zumeist fernab liegenden Lagerstädten transportiert werden. Später wurden diese Stadtwerke in das Öffentliche Netz integriert und verloren damit ihre ursprüngliche Bedeutung. Eine ähnlich gelagerte Orientierung auf Sicherung des Eigenbedarfs gab es übrigens auch bei der Errichtung städtischer Wasseraufbereitungsanlagen.

Die Idee der Stadtwerke könnte nun im Zusammenhang mit der Energiewende wieder aufleben. Dazu wäre es notwendig, die aus natürlichen Quellen stammende Primärenergie soweit möglich aus dem stadtnahen Umland zu beziehen, indem dort verstärkt Solarparks bzw. Windkraftfarmen angelegt würden. Der auf diese Weise gewonnene Strom könnte dann auf kurzem Weg in die Städte geleitet und dort zur Deckung des dort bestehenden Bedarfs eingesetzt werden. Zusätzlich könnten auch Stromspeicher großer Kapazität in die Anlagen integriert werden, deren Einsatz der energetischen Autonomie zugutekäme. Stadtwerke der skizzierten Art könnten somit weitere energieautarke Subsysteme größerer Dimension sein, die sich in das Gesamtkonzept hervorragend eingliedern lassen.

Versorgung der umliegenden Großstädte

Selbst bei Realisierung der hier vorgestellten Maßnahmen ist nicht auszuschließen, dass in bestimmten Regionen es auch weiterhin zeitweise ein Überangebot an erzeugtem Ökostrom gibt. Zu solchen Gebieten zählen vor allem der windstarke Norden bzw. der sonnenreiche Süden Deutschlands. Hier sind zunächst die Möglichkeiten auszureizen, den in Windkraftparks bzw. Solarfarmen erzeugten Ökostrom zur unmittelbaren Versorgung der umliegenden Großstädte einzusetzen. Geeignete Kommunen dieser Art wären beispielsweise Hamburg, Rostock unter anderem, die direkt mit Strom aus den regionalen Windkraftfarmen oder auch Freiburg und München, die mit den Stromgewinnen im Süden Deutschlands versorgt werden könnten. Damit könnte doch zumindest ein wesentlicher Teil des in solchen Hotspots erzeugten Ökostroms nutzbringend vor Ort verwertet werden, ohne dass aufwändige Stromautobahnen errichtet werden müssten.

Eine weitere Idee besteht darin, den industriearmen Norden Deutschlands zum Zentrum der Wasserstofftechnologie zu entwickeln. Dazu zählt die Errichtung großtechnischer Anlagen zur Gewinnung des energiereichen Gases Wasserstoff durch Spaltung von Wasser mit Hilfe von Elektrolysatoren unter Einsatz des reichlich vorhandenen Windstroms. Wasserstoff ist ein Energieträger von hoher Energiedichte und damit ein leistungsfähiges Speichermedium für Energie. Die Energieverwertung wäre vorschlagsgemäß darauf gerichtet, dieses Gas primär dem Verkehrswesen zur Verfügung zu stellen. Dazu wäre es sinnvoll, von dort aus ein Wasserstoffnetz zu errichten, in das in geeigneten Abständen Wasserstofftankstellen integriert sind. Damit würde eine eigenständige Infrastruktur geschaffen, deren Vorhandensein den Absatz wasserstoff-betriebener Fahrzeuge fördern würde. Die Umwandlung von Wasserstoff in elektrischen Fahrstrom übernähmen dann bordeieigene Brennstoffzellen. Damit könnte sich die Hoffnung der Automobilbranche erfüllen, die in diesem Typ die automobile Zukunft sieht. Dieser Energieträger könnte in Extremsituationen aber auch verstromt werden.

Wasserstofftechnologie in Küstennähe

Mit der Ansiedlung der Wasserstofftechnologie in Küstennähe würde weiterhin die Möglichkeit geschaffen, das bisher für den Antrieb von Großschiffen genutzte umweltschädliche Schweröl durch den Energieträger Wasserstoff zu ersetzen. Dazu müssten geeignete Häfen mit Betankungsmöglichkeiten für solche Großverbraucher ausgestattet werden. Weiterhin könnte in solche Regionen auch die Entwicklung und womöglich auch der Bau solcher Großantriebe auf Wasserstoffbasis verlagert werden, so dass der industrielle Standort gestärkt wird.

Außer der Verwertung in der abgasfreien Verkehrstechnik könnte die Wasserstofftechnologie auch für Wärmezwecke eingesetzt werden, was hier jedoch nicht näher ausgeführt werden soll. Wie zu erkennen ist, wäre die Wasserstofftechnologie somit eine vorteilhafte Ergänzung des vorgestellten Konzepts der Stromversorgung aus regenerativen Quellen.

Die vorstehend unterbreiteten Vorschläge sind in die Zukunft gerichtet und sollen vor allem Denkanstöße bieten. Bei einer Realisierung wären allerdings noch zahlreiche Details zu klären, wozu sicherlich auch die Gestaltung der vertraglichen und finanziellen Seite gehört.

ENDE TEIL 2 DIESES FACHAUFSATZES.
TEIL 1 ERSCHIEN AM 12.06.2020

Der Autor dieses Fachaufsatzes, Prof. Dr.-Ing. habil. Wolfgang Weller, war langjähriger Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gegenwärtig arbeitet er als freier Wissenschaftler. Kontakt: BITWeller@t-online.de