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Arten und Windkraft: „Wir müssen das Erkenntnisvakuum verlassen“

Wie sollte nach Ihrer Auffassung der Konflikt zwischen Artenschutz und Klimaschutz sachgerecht gelöst werden?

Hartwig Schlüter: Unter dem Oberbegriff Artenschutz können Sie das Thema Klimaschutz bereits nachvollziehbar einordnen. Vor dem Hintergrund, dass jährlich tausende Arten ihre Lebensgrundlage als Folge der Klimaerwärmung verlieren und aussterben, ist es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, dass zahlreiche Windparks wegen des Rotmilans nicht genehmigt wurden und werden. Das ist insbesondere nicht zu verstehen, wenn man bedenkt, dass in einigen Jahrzehnten die klimawandelbedingten Habitatverschiebungen nach Norden zu einer Verschiebung des Rotmilan-Brutschwerpunktes von Mitteldeutschland nach Süd-Skandinavien führen wird. Unter diesen Umständen kann kein Ökologe von einem „hohen Schutzniveau“ sprechen – genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist außerdem erstaunlich, dass in Deutschland jährlich circa Einhundertmillionen tote Vögel jeweils durch Hauskatzen, durch den Verkehr und durch Glasscheiben weniger politische und mediale Aufmerksamkeit bekommen, als rund Einhunderttausend tote Vögel an Windenergieanlagen.

Wie könnten oder sollten artenschutzrechtliche Risikoentscheidungen nachvollziehbar und rechtssicher getroffen werden?

Hartwig Schlüter, Geschäftsführer Enerplan

privat

Hartwig Schlüter, Geschäftsführer Enerplan

Hartwig Schlüter: Wir müssen das vom Bundesverfassungsgericht bei uns Normenanwendern konstatierte „Erkenntnisvakuum“ verlassen und uns an der Erkenntnisgrenze der ökologischen Wissenschaft bewegen. Dazu müssen wir endlich bereit sein, die von uns verwendeten Risikobegriffe an Zahlenbeispielen zu erläutern, wir müssen die Erkenntnisse aus Ökologie und Versicherungsmathematik nutzen. Und schließlich müssen wir einen nachvollziehbaren Bewertungsmaßstab entwickeln. Dazu wäre es hilfreich, wenn die Bundesregierung das Monitoring zum unbeabsichtigten Töten von Tieren der geschützten Arten vornehmen würde und diese Ergebnisse samt der vorgenommenen ökologischen Bewertung offenlegen würde. Es ist beispielsweise wichtig zu wissen, wieviel Prozent der Rotmilan-Todesfälle auf Kollisionen an Windenergieanlagen zurückgehen und jeweils wieviel Prozent auf andere Todesarten zurückgehen. Es kann nicht sein, dass die Todesfälle an Windenergieanalgen als besonders bedeutsam hingestellt werden und andere Todesursachen achselzuckend hingenommen werden. Erst auf der Grundlage dieser Monitoringergebnisse zum unbeabsichtigten Töten ist es genauer möglich, Risiko-Risiko-Vergleiche anzustellen, um dann unter Beachtung des Gleichbehandlungs- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Abwägung vorzunehmen. Weitere Stellschrauben sind zum Beispiel Nutzen-Risiko-Betrachtungen und der Umstand, dass der Rotmilan ein Nahrungsopportunist ist: Gibt es bei der Windenergieanlage nichts zu fressen, hat der Rotmilan kein Interesse dort hinzufliegen.

Gibt es weitere Dinge zu beachten?

Hartwig Schlüter: Wir brauchen eine unabhängige wissenschaftliche Qualitätskontrolle für Umweltbehörden, Gerichte, Anwälte und Gutachter zum Beispiel durch die Deutsche Akademie der Wissenschaften oder durch Scientists for Future. Es muss sichergestellt werden, dass Widersprüche in der Argumentation aufgelöst werden. So ist das „signifikant erhöhte Tötungsrisiko ohne Bezugsgröße“ mathematisch unsinnig – nichts ist relativ zu sich selbst. Es handelt sich um eine Vernebelung einer Messgröße. Gemeint ist eigentlich eine Eintrittswahrscheinlichkeit oder ein Bereich von Eintrittswahrscheinlichkeiten, bei denen das Kollisionsrisiko unzulässig hoch ist – dieser Wert muss nachvollziehbar ermittelt werden.

Bei wissenschaftlichen Standards wie der Forderung nach „Widerspruchsfreiheit“ von Aussagen handelt es sich quasi um Spielregeln für den Dialog. Nur wenn etwas nachvollziehbar erklärt wird, kann neben der Rechtssicherheit auch Akzeptanz und ein Konsens erreicht werden. Bei der Bundesregierung und den Landesregierungen ist diese banale Erkenntnis noch nicht gereift – sie haben sich vehement für einen Verbleib im unwissenschaftlichen, selbstgeschaffenen „Erkenntnisvakuum“ entschieden.

Hartwig Schlüter ist Geschäftsführer von EnerPlan in Göttingen

Enerplan