Die gemeinschaftliche Gebäudeversorgung könnte der solaren Energiewende in den Städten einen kräftigen Schub versetzen.
Die gemeinsame Nutzung einer Solaranlage hat Vorteile. Einige Hürden gibt es dabei zwar noch, aber erste Lösungen helfen darüber hinweg.
Sven Ullrich
Solarstrom auf dem Dach produzieren und als Wohnungseigentümergemeinschaft im Mehrfamilienhaus gleich verbrauchen: Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, wurde über 20 Jahre weitgehend verhindert. Diese Ära ging letztes Jahr endlich zu Ende. Das Solarpaket vom April 2024 führte den Paragrafen 42b in das Energiewirtschaftsgesetz ein und machte die sogenannte gemeinschaftliche Gebäudeversorgung (GGV) möglich.
Bis dahin waren es hauptsächlich Mieterstrommodelle, die in Mehrfamilienhäusern umgesetzt wurden. Diese beinhalteten aber eine Vollversorgung der Wohnungen mit Strom, die an dem Projekt teilnehmen.
Solarstrom aufteilen
Das heißt, der Anlagenbetreiber und Anbieter des Mieterstroms musste auch den Reststrom aus dem Netz zur Verfügung stellen und über eine Mischkalkulation abrechnen. Er wurde zum Stromversorger mit allen Pflichten.
Dies wird durch die gemeinschaftliche Gebäudeversorgung einfacher. „Bei der GGV liefert der Anlagenbetreiber nur den Solarstrom und muss sich nicht um die komplette Stromversorgung kümmern“, weiß Michael Vogtmann, Vorsitzender des Landesverbandes Franken der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie (DGS). „Dadurch kann jeder, der an der GGV teilnimmt, seinen Stromversorger für die Reststromlieferung behalten und frei wechseln.“
Verteilungsschlüssel im Vertrag
Voraussetzung für die Nutzung des Solarstroms ist der Abschluss eines Gebäudestromnutzungsvertrags zwischen Anlagenbetreiber und Letztverbraucher. Hier hat der Gesetzgeber schon rein begrifflich klargestellt, dass es sich nicht um eine Stromlieferung im herkömmlichen Sinne handelt. Was im Vertrag alles geregelt sein muss, ist im Gesetz genau vorgegeben. Die DGS Franken hat auf ihrem Mieterstromportal (www.mieterstrom-info.de) einen passenden Mustervertrag hinterlegt.
Bei Wohnungseigentümergemeinschaften gibt es auch die Möglichkeit, die notwendigen Regelungen als Zusatz in die Teilungserklärung aufzunehmen. In beiden Fällen muss der Vertrag neben der Regelung des Entgeltes für die genutzten Solarstrommengen auch den Verteilungsschlüssel beinhalten, also welchen Anteil des produzierten Sonnenstroms die einzelnen Wohn- und Gewerbeeinheiten nutzen können.
Es muss genau abgerechnet werden, welche Nutzungseinheit wie viel Strom verbraucht hat und welcher Anteil davon Solarstrom und welcher Netzstrom war.
Geringe Investition notwendig
Hier gibt es zwei verschiedene Grundvarianten: den statischen und den dynamischen Aufteilungsschlüssel. Bei der statischen Aufteilung wiederum gibt es mehrere Möglichkeiten. So kann beispielsweise jedem Nutzer ein fester prozentualer Anteil des Solarstroms zugeordnet werden. Bei der dynamischen Aufteilung wird die tatsächlich von jedem Nutzer verbrauchte Solarstrommenge genau abgerechnet.
Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. „Die statische Aufteilung ermuntert die Bewohner mehr zur Stromeinsparung. Außerdem gibt es keine Konflikte innerhalb der Hausgemeinschaft. Diese können immer entstehen, wenn eine Partei mehr Solarstrom nutzt, weil die Bewohner tagsüber zu Hause sind, als eine andere Partei, deren Bewohner tagsüber arbeiten. Bei der dynamischen Aufteilung erhöht sich aber der Eigenverbrauch des Solarstroms und damit auch die Wirtschaftlichkeit“, weiß Michael Vogtmann.
Strommengen genau messen
Ein weiterer Vorteil der GGV ist, dass viele energiewirtschaftliche Pflichten wie die Stromkennzeichnung entfallen. „Für die GGV sind auch geringere Anfangsinvestitionen notwendig als beim Mieterstrom“, erklärt Vogtmann.
Denn bei der GGV wird kein physischer Summenzähler installiert, der nicht nur viel Platz im Keller einnimmt, sondern auch ordentlich Geld kostet. Vielmehr kann ein virtueller Zähler über ein Smart-Meter-Gateway die Werte der einzelnen Zählpunkte rechnerisch abbilden.
Grundvoraussetzung für das Mess- und Abrechnungskonzept ist, dass jede Wohn- und Gewerbeeinheit ein Smart Meter bekommt, mit dem alle Strommengen in viertelstündlicher Auflösung gemessen werden. „Zusätzlich misst der Ertragszähler die Erzeugung von Solarstrom. Auf diese Weise kann ganz genau abgerechnet werden, welche Nutzungseinheit wie viel Strom verbraucht hat und welcher Anteil davon Solarstrom und welcher Netzstrom war“, beschreibt Elisa Förster das Prinzip. Sie ist Projektleiterin im Solarzentrum Berlin, einer produkt- und herstellerneutralen Informations- und Beratungsstelle rund um das Thema Solarenergie. Das Solarzentrum wird vom Berliner Senat finanziert und vom Landesverband Berlin-Brandenburg der DGS umgesetzt.
Netzbetreiber sind noch nicht so weit
Mit einem zusätzlichen Smart-Meter-Gateway am Netzverknüpfungspunkt kann bilanziert werden, welche Strommengen aus dem Gebäude ins Netz fließen und umgekehrt. Hier stoßen die potenziellen Projekte an ihre Grenzen. „Wenn die Wohnungseigentümergemeinschaft eine GGV im gesetzlichen Sinne umsetzen will, muss ein Dienstleister die Solarstromzuteilung übernehmen“, erklärt Michael Vogtmann. „Er sendet die Daten an den Messstellenbetreiber, der dann die Reststrommengen berechnet und an die entsprechenden Lieferanten meldet. Genau an diesem Punkt scheitern viele Netzbetreiber: Die notwendige Softwareanpassung fehlt.“
Es gibt bisher nur wenige Netzbetreiber, die entsprechende Abrechnungsalgorithmen ersonnen oder die Marktkommunikation mit den Messstellenbetreibern standardisiert haben. Die GGV ist auch noch längst nicht bei allen Messstellenbetreibern als Dienstleistung angekommen. „Zudem sind aktuell nur statische Aufteilungsschlüssel vorgesehen – also feste Prozentsätze. Dynamische Verteilungen pro Viertelstunde lassen sich in den heute etablierten Formellogiken kaum abbilden“, weiß Ulrich Schuster, CTO von Decarbonize.
Wir übernehmen die Marktrolle des Netzbetreibers, ohne physisch ein Netzbetreiber zu sein.
Bilanzkreis aufgebaut
Das Berliner Unternehmen hat im Norden der Hauptstadt ein GGV-Projekt realisiert. Dazu hat Decarbonize mit Stromnetz Berlin und einer Hausgemeinschaft eine Lösung gefunden, wie die einzelnen Strommengen gemessen und abgerechnet werden können. Die Lösung basiert auf von der Bundesnetzagentur standardisierten Marktregeln zur Abrechnung von Strommengen in der Elektromobilität, wofür Decarbonize schon länger ein System anbietet. „Mit dieser Netzzugangsregelung für die Elektromobilität können wir dem Elektroauto einen Stromvertrag geben statt der Ladesäule. Das Elektroauto bekommt eine energiewirtschaftliche Adresse. Ähnlich machen wir auch die Abrechnung für die GGV“, erklärt Ulrich Schuster.
Rolle des Netzbetreibers übernehmen
Dazu wird der informationstechnische Teil des Netzanschlusses vom physischen Teil des Netzes getrennt. Dies gelingt über das virtuelle Summenzählermodell. „Dadurch muss der Netzbetreiber die einzelnen Energiemengen, die von den Messstellen ermittelt werden, nicht mehr den Bilanzkreisen der jeweiligen Lieferanten zuordnen. Denn das übernehmen wir. Hierfür agieren wir in der Marktrolle des Netzbetreibers, ohne physisch ein Netzbetreiber zu sein“, sagt Schuster.
Innerhalb dieses virtuellen Netzes aggregiert Decarbonize die Messwerte und setzt sie selbstständig zu Zeitreihen zusammen, die jedem einzelnen Zähler zugeordnet werden. „Der virtuelle Summenzähler ist die Grenze unseres virtuellen Netzes, genauer gesagt unseres virtuellen Bilanzierungsgebiets. Bis dahin ist Stromnetz Berlin zuständig und schickt uns auch die Netznutzungsabrechnung. Alles, was dahinter passiert, übernehmen wir“, erklärt der Decarbonize-Experte.
Wenn die Wohnungseigentümergemeinschaft eine gemeinschaftliche Gebäudeversorgung im gesetzlichen Sinne umsetzen will, muss ein Dienstleister die Solarstromzuteilung übernehmen.“
Jede Wohnung einzeln abrechnen
Das Unternehmen kümmert sich um die Aufteilung der Strommengen aus der Solaranlage und um die Bilanzierung der Reststrommengen. Dazu vergibt es für jede Wohnung eine Identifikationsnummer, die Marktlokation, und berechnet alle Werte innerhalb des virtuellen Bilanzierungsgebiets. An diese Marktlokationen können beliebige Stromversorger ihren Netzstrom liefern, der für die Versorgung zusätzlich zum Solarstrom noch notwendig ist.
Da sich Decarbonize um die Aufteilung der Mengen aus der Solaranlage kümmert, sind die Betreiber der GGV auch weitgehend frei in der Wahl des Aufteilungsschlüssels. „Das ist für uns einfacher als für einen Netzbetreiber, der an die regulierten Prozesse und Datenformate gebunden ist“, sagt Ulrich Schuster. „Die Lösung ist zwar noch nicht hundertprozentig fertig. Doch wir schauen jetzt gemeinsam mit Stromnetz Berlin, wie wir das standardisieren können, um daraus einen skalierbaren Prozess zu entwickeln.“
Nur ein Grundpreis
Noch viel wichtiger ist aber, dass über diese Lösung auch die einzelnen Bewohner des Hauses relativ einfach in die GGV ein- oder aussteigen können. „Dadurch können wir mit der GGV beginnen, ohne dass gleich alle teilnehmen müssen“, betont Ulrich Schuster.
Die Lösung hat noch einen weiteren Vorteil. Denn da Decarbonize nur noch eine Nutzungsabrechnung am Netzanschluss zentral bekommt, gibt es auch nur noch einen Grundpreis, den Decarbonize den GGV-Teilnehmern zusätzlich zum Arbeitspreis in Rechnung stellt. In diesen Grundkosten preist das Unternehmen auch seine Dienstleistung ein. Bei der normalen GGV würde für jede einzelne Wohnung ein Grundpreis berechnet. Hier würde dann auch für jede Wohnung noch einmal separat die Dienstleistung des Messstellenbetreibers abgerechnet.
Perspektivisch kann Decarbonize so sogar ein virtuelles Verteilnetz über mehrere Gebäude errichten, das sich über Netzgebiete mehrerer Verteilnetzbetreiber spannt. Damit ist der Weg frei für den nächsten Schritt: das Energy-Sharing, bei dem der Solarstrom mit benachbarten Gebäuden gehandelt werden kann.
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