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Neue Stromtrassen

Wem nutzt der Netzausbau?

ERE02-Netze01Braunkohlekraftwerke werden 2022 die fehlende Grundlast der Atommeiler ersetzen. Das darf nicht zur Dauerlösung werden.Foto: Tom Bayer/fotolia.com

Wenn der Strommast ruft, setzt sich Deutschland in Bewegung: Ein Großstädter führt seine Stehlampe durch sonnengeflutete Straßen spazieren, ihm folgen Büroangestellte mit ihren Monitoren im Schlepptau und ein Rentnerehepaar samt Wasch­maschine. Gemeinsam mit allerlei Hausmännern, -frauen und ihren Haushaltsgeräten ziehen die Massen durch Stadt und Wald, bis sie auf einem Hügel den ersehnten Strommast erblicken. Er hält genügend Steckdosen für alle bereit.

Was sollen die Bürger tun, damit sie nicht zum Strom kommen müssen, sondern dieser zu ihnen, fragt das Bundeswirtschaftsministerium in dem ak­tuellen Kinospot. Einfach „ja“ sagen, heißt es im Clip: „Ja zum Netzausbau! Damit die Energiewende gelingt.“ Und damit freilich auch zu 5.700 Kilometer neuen und modernisierten Hochspannungstrassen und Kosten von zehn bis 20 Milliarden Euro. Inwiefern diese Vorhaben allein der Energiewende dienen, ist unter Experten durchaus strittig.

Ausbauplan spaltet Experten

„In seiner jetzigen Form ist der Netzausbau schlicht falsch“, sagt etwa Lorenz Jarass. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Rhein-Main berät Bundesregierung und EU-Kom­mission als Mitglied verschiedener Ausschüsse, un­ter anderem in Fragen zum Trassenbau. „Mit dem Ausbauplan wurde ein wichtiger Zwischenschritt gemacht, der die heutigen Erkenntnisse widerspiegelt“, sagt dagegen Clemens Hoffmann, der sich als Leiter des Fraunhofer Instituts für Windenergie- und Energiesystemtechnik (IWES) mit der Netzin­tegration der Erneuerbaren beschäftigt.

Bis 2022 soll die Netzinfrastruktur nach den Plänen der Bundesregierung erweitert werden, um mit wachsendem Grünstromanteil eine zuverlässi­ge Stromversorgung zu gewährleisten. Das verlan­ge auch der bis 2022 abgeschlossene Atomausstieg, nach dem insbesondere im Süden Unterkapazitä­ten drohen. Die Regierung hat daher von den Über­tragungsnetzbetreibern 2012 einen Netzentwick­lungsplan (NEP) erstellen lassen. Er wurde von der Bundesnetzagentur geprüft und daraufhin im ersten Bundesbedarfsplangesetz festgehalten. Das Kabinett hat ihn bereits beschlossen, Bundestag und Bundesrat sollen noch folgen.

Mehr Austausch von Norden nach Süden

Konsens des Ausbauplans: Um eine stabile Stromversorgung langfristig sicherzustellen, sollen in 32 Projekten neue Übertragungsleitungen ent­stehen und bestehende Netze verstärkt werden. Die größten Einzelprojekte bilden dabei vier Trassen mit Hochspannungsgleichstromübertragung, die als Stromautobahnen die Energie aus dem Norden Deutschlands in den Süden transportieren. Das sichert die Energiewende, sagt das IWES – es könnte sie aber auch blockieren, sagt Jarass.

Jarass kritisiert die Annahmen, nach denen der Netzausbauplan entwickelt wurde: „Es ist ein Wahnsinn, dass auch die letzte erzeugbare Kilo­wattstunde gesichert eingespeist werden soll.“ Der NEP sieht vor, auch bei Netzausfällen jede Leis­tungsspitze Windenergie einzuspeisen. Gleichzeitig könnte noch genügend Kapazität für Kohlekraft mit voller Leistung im Netz sein. Das zumindest steht im NEP zur Beurteilung des ostdeutschen Netzgebiets nach dem Ausbau 2022: Demnach kann das Netz von 50 Hertz zusätzlich zu 20,2 Gigawatt (GW) Wind noch 14 GW konventionelle Energie aufnehmen. Laut NEP speisen „in diesem Netznutzungsfall zahlreiche konventionelle Ein­heiten flächendeckend mit Nennleistung ein.“

Ersatzleitungen für stille Meiler

Was theoretisch möglich ist, muss natürlich nicht Realität werden. „Durch den Netzausbau sol­len netzseitig keine Reduktionen der Einspeisung erneuerbarer Energien mehr notwendig sein. In­wiefern die konventionellen Energien aber markt- und systemseitig reguliert werden, steht auf einem anderen Blatt“, sagt Kurt Rohrig, Bereichsleiter für Energiewirtschaft und Netzbetrieb beim Fraun­hofer IWES. Bleibt die Frage, ob der Netzausbau nicht geringer ausfallen darf, wenn bei Starkwind keine konventionelle Quelle mit Nennleistung am Netz hängen soll. Denn schon wenn nur ein Pro­zent Energieeinbuße zugelassen würde, könnte die Netzkapazität merklich geringer ausfallen, sind sich Rohrig und Jarass weitgehend einig. Vielleicht hätte das im Netzentwicklungsplan stärker berück­sichtigt werden können.

ERE02-Netze02Geplante Leitungen mit verlustarmer Hochspannungs-gleichstromtechnik im Bundesbedarfsplan. Die innerdeutschen Leitungen haben je zwei Gigawatt Kapazität. Ausnahmen: Wilster-Grafenrheinfeld und Lauchstädt-Meitingen mit je 1,3 Gigawatt. Grafik: crevis/fotolia.com

Geplant sind nun folgende Trassen: Bis 2017 ent­steht die Hochspannungsgleichstromleitung (HGÜ) zwischen Osterath im Ruhrgebiet und Phillipsburg in Baden-Württemberg (Karte Seite 16). Wenn die 1,4 GW Erzeugerkapazitäten des AKW Phillips­burg 2 im Jahr 2019 vom Netz gehen, kann die entstehende Lücke mit Kohlestrom aus dem Ruhr­gebiet aufgefangen werden. Die zwei GW Übertra­gungsleistung werden zunächst zum größten Teil von konventionellen Quellen geliefert.

Erst 2020 folgt die Trasse von Emden nach Osterath, die es dann ermöglicht, Offshore-Windstrom in den Sü­den zu leiten. Auch abgeschaltete Atommeiler werden durch die Trassen kompensiert: Die HGÜ-Leitungen drei und vier führen bis zu den Meilern Neckarwestheim, Abschaltdatum 2022, und Gra­fenrheinfeld, das 2015 außer Betrieb geht. Leitung fünf verläuft von Lauchstädt bei Leipzig bis kurz vor Grundremmingen, wo 2017 eine AKW-Leis­tung von knapp 1,3 GW vom Netz geht.

Wermutstropfen: Die Leitungen aus Nord- und Mitteldeutschland werden preiswerte, unflexible Braunkohlekraftwerke beflügeln, so die Annah­men im Szenario des NEP: Bis 2022 soll Braun­kohle mit über 1.000 Volllaststunden zusätzlich ausgelastet werden im Vergleich zu 2011 (siehe Tabelle). „Wenn die Atomenergie wegfällt, bleibt Braunkohle zunächst als Grundlast übrig, weil sie die günstigsten Stromgestehungskosten hat“, sagt Rohrig. Lorenz Jarass befürchtet, der Netzausbau ermögliche Kohlestrom eine verlustarme Verbrei­tung. Gut regelbare Gaskraftwerke, die für den Ausgleich volatiler Regenerativenergie wichtig sind, sollen dagegen mit 1.500 Volllaststunden im Szenario nur halb so stark ausgelastet werden wie heute. „Die Einsatzpläne der Kraftwerke ergeben sich aus einer marktwirtschaftlichen Simulation ba­sierend auf dem Szenariorahmen“, kommentiert die Bundesnetzagentur die prognostizierte Kohle­renaissance.

Gaskraft: Wirtschaftlichkeit gefährdet

Die marktwirtschaftliche Situation der Gaskraft aber sieht schon heute kritisch aus: Ende 2012 kündigte Eon an, den 415-Megawatt-Block 5 des bayerischen Gaskraftwerks Irsching wegen schlechter Auslastung abzuschalten. Zuvor setz­te Eon aus gleichem Grund die Blöcke Irsching 3 und Staudinger 4 außer Betrieb. „Wenn sich schon heute nicht der Betrieb bestehender Gaskraftwer­ke lohnt, ist der dringend benötigte Zubau von gut regelbaren Gaskraftwerken in jedem Fall unren­tabel“, sagt Lorenz Jarass. Ökonomische Anreize sind laut Bundesnetzagentur zwar aktuell nicht vorgesehen, aber: „Die Frage nach wirtschaftlichen Anreizen insbesondere für Gaskraftwerke ist in einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen bereits thematisiert.“

ERE02-Netze03Netzentwicklungsplan: Die prognostizierte Energie-erzeugung bis 2022 entscheidet darüber, wie die Netzinfrastruktur künftig aussehen wird. Verglichen mit 2011 wird die Auslastung der Braunkohle steigen.Quellen: Netzentwicklungsplan, *BDEW, **AGEB, AGEE-Stat., ***BMU

„In einem Szenario mit 100 Prozent Erneuerbaren brauchen wir Kraftwerke, die im Hintergrund zu bestimmten Zeiten mehr als 80 Prozent der Last übernehmen können, wenn es nötig ist“, sagt IWES-Leiter Clemens Hoffmann. Da neu zu bau­ende Gaskraftwerke mit den Stromkosten aus ab­geschriebenen Braunkohlemeilern nicht konkurrie­ren können, sind neue Marktstrategien nötig. „Die Erneuerbaren könnten als Brot-und-Butter-Klasse zu niedrigen Preisen einspeisen, für die Sicher­heitsreserven aus Gaskraft müssen wir bereit sein einen deutllich höhere Preis zu zahlen. Das ist wie eine Versicherung, die wir zahlen müssen“, sagt Hoffmann. Und um zu verhindern, dass sich die Braunkohle für die Energieversorger dauerhaft als Goldesel etabliert, seien schlicht höhere CO2-Zerti­fikatepreise oder schärfere Auflagen nötig, ergänzt IWES-Energiewirtschaftsexperte Rohrig.

Hier gibt es aktuell allerdings Probleme: Weil derzeit zu viele Zertifikate im Umlauf sind, sind die Verschmutzungsrechte nicht einmal halb so teuer wie ursprünglich kalkuliert. Die für die Preisregulierung verantwortliche EU will gegensteuern, bekommt aber ausgerechnet aus dem Bundeswirtschaftsministerium Gegenwind.Gelingt die Regulierung auch auf Dauer nicht und im Süden entstünden tat­sächlich keine Gaskraftwerke, wäre das „das Ende der Energiewende“, prognostiziert Lorenz Jarass.

Renaissance der Kohlekraft?

Die Kraftwerksbranche bereitet sich schon auf mehr Nachfrage vor: RWE nahm 2012 den Braunkohlemeiler Grevenbroich- Neurath in Betrieb, Vattenfall rüstete sich mit neu­em Kraftwerksblock im sächsischen Boxberg. Fast 2,9 GW erreichen die beiden Bauten – Kraft-Wär­me-Kopplung: Fehlanzeige. Hinzu kommen acht Steinkohle-Kraftwerke, die bis 2014 vor allem in Nord- und Mitteldeutschland entstehen sollen.

Laut Hoffmann führt an den Nord-Süd-Tras­sen zur langfristigen Vollversorgung aus erneuerba­ren Energien jedoch kein Weg vorbei. „In unseren Breiten fällt die energetische Mischung zugunsten des Windes aus.“ Am Aquätor würde man zu 100 Prozent auf die Sonne setzen, in Deutschland liegt das ideale Verhältnis etwa bei 64 Prozent Wind, vorrangig im Norden – der Rest ist Solar. „In die­sem Verhältnis entstehen die wenigsten Stromlü­cken, was auch wichtig für die Kapazität künftiger Großspeicher ist“, sagt Hoffmann. Er mahnt an, einen Masterplan mit sauberen Berechnungen zu entwickeln. „Es ist nicht unmöglich, Ziele festzule­gen, wie viele Terawattstunden in 25 oder 35 Jah­ren aus welcher Energieform kommen. Auf dieser Basis lassen sich alle technischen und wirtschaftli­chen Maßnahmen ableiten.“

(Denny Gille)

Der Artikel erschien erstmals in der Februar-Ausgabe 2013 von ERNEUERBARE ENERGIEN - das Magazin.