Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
EU-Emissionshandel

Düstere Aussichten

16. April 2013: Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler lobte: „Ein hervorragendes Signal für den wirtschaftlichen Erholungsprozess.“ Kanzlerin Angela Merkel schwieg. Die Zeitung Taz titelte „Ein guter Tag für Dreckschleudern“.

Die Ursache dieser weitgefächerten Meinungen: Das EU-Parlament in Straßburg hatte gerade einen Vorschlag der Europäischen Kommission zur Änderung des EU-Emissionshandelssystems (ETS) abgelehnt. Brüssel hatte vorgeschlagen, 900 Millionen Emissionszertifikate statt zu Beginn der neuen Handelsperiode in diesem Jahr erst an deren Ende 2019/20 zu versteigern. Dieses so genannte Backloading sollte die Zahl der momentan auf dem Markt befindlichen Zertifikate verringern und damit deren Kosten erhöhen.

Die Ablehnung war knapp – 334 Stimmen von Konservativen und Liberalen gegen das Backloading, 315 Stimmen von Grünen, Sozialdemokraten und Linken dafür. 65 Enthaltungen. Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für den Emissionshandel?

Vorgeschichte

2005 trat das Kyoto-Protokoll in Kraft, der weltweit erste verbindliche Vertrag zur Eindämmung des Klimawandels. Alle beteiligten Staaten verpflichteten sich, den Ausstoß klimaschädlicher Gase – wie zum Beispiel CO2 – zu senken. Die wichtigste europäische Maßnahme zum Erreichen dieses Ziels war der Aufbau des EU-Emissionshandelssystems für Unternehmen.

Jeder EU-Staat legt seitdem die Gesamtmenge an Emissionen fest, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums freigesetzt werden darf. Diese wird vom Staat den verpflichteten Emittenten wie Energieerzeuger oder Fertigungsindustrie zugeteilt. Die Unternehmen müssen am Ende einer Periode für jede emittierte Tonne CO2 eine Emissionsberechtigung vorweisen. Emittenten, die Emissionen einsparen, können übrig gebliebene Zertifikate verkaufen; Unternehmen, die über die zugeteilte Emissionsmenge hinaus CO2 ausstoßen, müssen zusätzliche Zertifikate aufkaufen. Werden Angebot und Nachfrage über die Börse ausgeglichen, stellt sich ein Preis für die Zertifikate ein. Dadurch werden Emissionsminderungen dort realisiert, wo sie mit den geringsten Kosten verbunden sind. Der Handel mit Emissionszertifikaten ist insofern ein marktwirtschaftlich arbeitendes Werkzeug.

Sinn macht das ganze System natürlich nur, wenn die Menge der vom Staat ausgegebenen Zertifikate stets geringer ist als die bisherigen Emissionen – man will ja einsparen. Die Zuteilung der Zertifikate erfolgte in Deutschland in den bisherigen Handelsperioden überwiegend kostenlos, nur ein geringer Anteil wurde versteigert.

Die Entwicklung

Da es keine Erfahrungswerte für ein derartiges System im gesamteuropäischen Rahmen gab, waren einige Fehlentwicklungen unvermeidbar, die das ETS in Misskredit brachten, sein grundsätzliches Funktionieren aber nicht behinderten.

Eine davon war das Einpreisen aller – auch der kostenlosen – Zertifikate in die Kostenrechnung der Energieversorger. Diese stellten diese Maßnahme als betriebswirtschaftlich üblich dar, so genannte Opportunitätskosten. Die fünf größten deutschen Energiekonzerne verschafften sich damit nach einer Schätzung des Öko-Instituts für die Jahre 2005 bis 2012 Zusatzgewinne in Höhe von 39 Milliarden Euro auf Kosten der Energieverbraucher.

Ein anderer Fall – diesmal mit eindeutig kriminellem Hintergrund – war der Steuerbetrug beim Emissionshandel. Ein Ring von Händlern hatte über Jahre und über ein Dickicht von Firmen CO2-Emissionszertifikate im Ausland gekauft, wo sie steuerfrei waren, nach Deutschland eingeführt, ohne die fällige Umsatzsteuer zu bezahlen, wieder ins Ausland verkauft und dann vom Finanzamt die nie gezahlte Umsatzsteuer zurückverlangt. Erste Verurteilungen erfolgten Ende 2011; weitere Untersuchungen – auch gegen große deutsche Banken – laufen noch. Der Fall hatte aber nichts mit der Idee der CO2-Emissionsbegrenzung zu tun. Kriminelle Energien sind allgemeine Erscheinungen und suchen sich überall Betätigungsfelder.

Die gegenwärtige Entwicklung dagegen geht an die Substanz. Der Wert der Zertifikate ging in den vergangenen Jahren dramatisch nach unten, von 30 Euro pro Tonne CO2 auf unter drei Euro pro Tonne im April 2013 (Grafik). Ursache war die Überversorgung mit Emissionsrechten. Zum einen lag schon 2005 und 2006 die ausgegebene Menge an Rechten jeweils rund vier Prozent höher als die tatsächlichen Emissionen – Anlagenbetreiber hatten ihre Emissionsberichte teilweise wohl etwas großzügig aufgerundet. Für die Periode 2008 bis 2012 war eine Zuteilungsverringerung um sechs Prozent eingeplant, dies aber auf der Basis von 2005. Diese Verringerung wurde allein schon durch die gedrosselte Produktion in der Wirtschaftskrise erreicht. Energieintensive Branchen behielten damit Emissionsrechte für Millionen Tonnen CO2 übrig.

Heutiger Stand

CO2-Bilanz | Die Preisentwicklung der CO2-Zertifikate: (fast) ununterbrochene achtjährige Leidensgeschichte - © Daten aus EHSt-Quellen
CO2-Bilanz | Die Preisentwicklung der CO2-Zertifikate: (fast) ununterbrochene achtjährige Leidensgeschichte

Beim heutigen Zertifikatspreis ist die Steuerwirkung des Emissionshandels praktisch nicht mehr vorhanden. Es rechnet sich nicht mehr, CO2-Emissionen zu verringern; dafür lohnt sich wieder der Einsatz emissionsintensiver Braunkohlekraftwerke. Prompt stiegen die deutschen CO2-Emissionen 2012 wieder. Wiederbelebt werden kann das System nur, wenn die Zahl der Emissionsberechtigungen verringert wird – gerade das aber hat die konservativ-liberale Mehrheit des EU-Parlaments abgelehnt. Deren Begründung kann exemplarisch auf der Homepage eines konservativen Europa-Parlamentariers gefunden werden: „Das ETS ist ein funktionierendes marktwirtschaftliches System, mit dem wir die zugesagten Klimaziele erreichen werden … Unser Ziel muss es sein, die industrielle Basis zu stärken und nicht diese durch planwirtschaftliche Maßnahmen weiter zu schwächen … Backloading setzt die Wettbewerbsfähigkeit Europas aufs Spiel … Bei einem wirtschaftlichen Aufschwung wird der Zertifikatspreis von selbst wieder anziehen.“ Das ETS-Konzept wird als marktwirtschaftlich und daher unantastbar dargestellt. Jedoch ist nur das Zertifikatehandelsverfahren marktwirtschaftlich. Die Höhe der Emissionszuteilungen ist dagegen eine umweltpolitische Vorgabe. „Eine Intervention könnte gerechtfertigt werden, wenn aufgrund von vorübergehenden Konjunkturschwankungen der Preis zu hoch oder zu niedrig wäre. Hier ließe sich eine Intervention aber nur rechtfertigen, wenn im Voraus angekündigt würde, bei welchen Mindest- oder Höchstpreisen die Politik interveniert. Das ist jedoch im Falle des ETS nicht geschehen“, erklärt Ottmar Edenhofer, Chefklimaökonom vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, gegenüber ERNEUERBARE ENERGIEN. Mit anderen Worten: Ein Backloading hätte nach seiner Meinung vorher bei der Festlegung der Grundregeln des Emissionshandels geklärt werden müssen.

Wie geht jetzt es weiter? Der Klimaökonom spricht von einer „dreifachen Reformaufgabe“. Erstens sei es nach seiner Ansicht sinnvoll, wenn für das Jahr 2030 eine ambitionierte Emissions­obergrenze angekündigt würde. „Das würde für Investoren Planungssicherheit bewirken“, begründet er. „Zweitens wäre es ökonomisch richtig, wenn alle relevanten Sektoren in den Emissionshandel mit einbezogen würden, also auch der Transportsektor oder der Wärmemarkt.“ Und drittens sei es hilfreich, wenn der Emissionshandel so ausgestaltet würde, dass er mit den anderen entstehenden Emissionshandelssystemen zum Beispiel in Australien vernetzt werden kann.

Auch die Entscheidung vom 16. April muss nicht endgültig sein. Das Europaparlament hat den Streit zurück an den Umweltausschuss verwiesen. Die ehemalige Umweltministerin Angela Merkel hat sich Mitte Mai auf dem Petersberger Klimagipfel in Berlin für die schnelle Reduzierung der Zertifikate stark gemacht und damit allen Beteiligten Deutschlands einstige Rolle als Vorreiter des Klimaschutzes in Erinnerung gerufen: Ach ja, da war doch was.

(Thyge Weller)

Neuer Kompromiss

Der Umweltausschuss der Europäischen Union (EU) hat dem EU-Parlament inzwischen einen Kompromiss zur Rettung des CO2-Emissionshandel vorgelegt. Mit einem Backloading soll demnach die im April abgelehnte Menge von 900 Millionen Zertifikaten aus dem Handel genommen werden. Der Kompromiss sieht aber vor, dass 600 Millionen Zertifikate in einen Fonds zur Förderung emissionsärmerer Produktionen wandern. Zudem müssen alle Zertifikate allmählich ab sofort wenngleich allmählich in den Handel zurückgespeist werden. Der Berichterstatter des Ausschusses, Sozialdemokrat Matthias Groote, sieht "die Chance, dass die konservative EVP dem ... zustimmt."

Die entsprechende Parlamentssitzung wird im Juli stattfinden. Danach müssten auch die EU-Staaten zustimmen. Dass freilich vor der Bundestagswahl nach dem Willen der Bundesregierung nichts mehr passieren soll, darf angenommen werden. So hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 28. Juni eingeräumt, tags zuvor sei auf deutsches Betreiben hin im EU-Botschafterausschuss die Reduzierung der CO2-Emissionen von Autos von der Tagesordnung genommen worden. Hier hatte es wenige Tage zuvor eine Einigung zwischen Parlament, EU-Kommission und Vertretern der EU-Staaten gegeben. Die Bundesregierung will "im Herbst" nachverhandeln.