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Großer Verbändeappell an Politik wegen fehlendem Netzausbau

Die Energiewende in Deutschland droht am fehlenden Netzausbau zu ersticken. Industrie, Handel und Mittelstand warnen unisono: Der stockende Ausbau der Stromnetze und schleppende Anschlussprozesse bremsen Investitionen, gefährden Klima- und Wirtschaftsziele – und ersticken den Pragmatismus im Dickicht der Bürokratie. „Jeder nicht realisierte Netzanschluss ist ein verlorener Beitrag zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands“, heißt es in einem Verbändeappell von 13 Wirtschafts- und Branchenverbänden an Politik und Netzbetreiber.

Und die Forderung ist dringlich: Vom Rechenzentrum bis zur Gießerei, vom Supermarkt bis zur Energiegenossenschaft – überall trifft der Wille zur Dekarbonisierung auf fehlende Kapazitäten, mangelhafte Prozesse. Doch im Zentrum steht nicht die Klage, sondern die Suche nach Lösungen.

Wenn Netze den Fortschritt bremsen

Sarah Bäumchen, Geschäftsführerin des ZVEI, bringt das Kernproblem auf den Punkt: Der Netzausbau hinkt der Transformation hinterher: „Das Stromnetz ist das Rückgrat der Energiewende. Nur wenn die Infrastruktur leistungsfähig, digital und zukunftsfest ist, kann die Transformation gelingen. Wir haben kein Henne-Ei-Problem – die Infrastruktur muss vorlegen.“

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Allein in Berlin-Brandenburg wurden laut Bäumchen 2024 über 60 neue Rechenzentren beantragt – mit einem Strombedarf von insgesamt 9.000 Megawatt. Das Netz kann derzeit gerade einmal 2.400 liefern. Diese ungleiche Rechnung zieht sich durch viele Regionen Deutschlands und führt dazu, dass Projekte, die eigentlich auf Klimaschutz und Digitalisierung einzahlen sollen, ausgebremst werden.

Die Industrie signalisiert Kooperationsbereitschaft. „Es geht weniger um das Wissen, sondern jetzt ums Machen“, so Bäumchen. Sie verweist auf Vorschläge zur Harmonisierung von Netzkomponenten und digitale Standardprozesse. Doch solange Netzbetreiber mit ineffizienten Abläufen und Papierakten hantieren, bleibt statt Tempo nur Stillstand.

„Wir brauchen keine Retro-Energiewirtschaft“

Robert Busch, Geschäftsführer des Bundesverbands Neue Energiewirtschaft (BNE), sieht die Lage ähnlich – und spart nicht mit Kritik am fehlenden Umsetzungswillen mancher Protagonisten: „Was wir hier machen, ist nicht irgendwie nur eine Nebenphase, sondern das ist Wirtschaft, Wettbewerb und Innovation. Wir brauchen keine Retro-Energiewirtschaft, sondern eine neue, die was kann – exportfähig, digital und effizient.“

Busch fordert nicht weniger als eine neue Transparenzkultur in der Netzplanung. „Der Blindflug der Verteilnetze“ müsse beendet werden – gemeint ist das Fehlen digitaler Daten darüber, welche Leitungen wann und wie stark ausgelastet sind. Mit intelligenter Steuerung, so Busch, ließen sich bis zu 30 Prozent der Investitionskosten sparen.

Zentrale Hebel seien aus seiner Sicht: einheitliche Standards für digitale Anträge, verbindliche Fristen für die Netzanschlussbearbeitung und eine bessere Verzahnung von Netz- und Systemdaten. Der frühere „Branchendialog“, der bis 2023 Fortschritte gebracht hatte, müsse neu aufgelegt werden. „Es kann nicht sein, dass wir jede Region mit eigenen Prozessen überziehen. Wir brauchen einfache, digitale Schnittstellen, um die Energiewirtschaft fit für die Zukunft zu machen.“

Handel unter Strom – aber ohne Anschluss

Wie dringlich die Lage ist, weiß Jan-Oliver Heidrich vom Handelsverband Deutschland (HDE). Er schildert, wie sich Klimaschutzverpflichtungen und bürokratische Hürden im Alltag der Handelsunternehmen gegenseitig ausbremsen: „Wir sind verpflichtet, PV-Anlagen auf unseren Dächern und Ladeinfrastruktur auf unseren Parkplätzen zu bauen – was wir gerne tun. Aber es kann ja nicht sein, dass wir dann an fehlenden Netzanschlüssen scheitern.“

Heidrich spricht von monatelangen Wartezeiten bei Netzbetreibern, teils ohne jede Rückmeldung. „Am Anfang haben 80 Prozent der Netzbetreiber gar nicht geantwortet. Heute beträgt die Reaktionszeit oft 12 bis 18 Monate – das ist absurd.“

Er stört sich insbesondere an den uneinheitlichen Technischen Anschlussregeln. „Diese fehlende Vereinheitlichung kostet uns Zeit, Geld und Nerven. Die Verweigerungshaltung vieler Netzbetreiber, endlich ihre Prozesse zu modernisieren – das stört uns gewaltig.“ Statt nur über neue Kupferleitungen zu sprechen, brauche es digitale Vereinheitlichung, zentrale Plattformen und feste Ansprechpartner. Nur so könnten Unternehmen ihre Investitionen in die Lade- und Solarinfrastruktur tatsächlich realisieren.

„Wir haben Geld, aber kein Netz“

Fynn-Willem Lohe, Geschäftsführer des Kaminherstellers Leda in Leer, bringt das Dilemma aus Sicht des industriellen Mittelstands emotional auf den Punkt: „Wir haben Geld, wir haben die Technologie, wir haben die Genehmigungen – aber kein Netz. Und das ist wirklich zynisch in einem Land, das sich Klimaschutz auf die Fahnen schreibt.“

Lohe schildert eindringlich, wie sein Unternehmen über 80 Prozent CO₂ einsparen könnte, wenn der Betrieb elektrisch statt koksbefeuert liefe. Doch der Netzanschluss von sieben Megawatt wird frühestens 2032 möglich sein – wegen Priorisierung von Batteriespeichern.
„Hier ist alles bereit: Bürgermeister, Anwohner, Gewerbeaufsicht – alle sagen ‚Ja‘. Selbst der Netzbetreiber sagt: ‚Tolles Projekt‘. Aber am Ende heißt es: ‚Wir haben kein Netz‘. Das ist frustrierend und volkswirtschaftlich fatal.“

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Für Lohe ist das nicht nur ein unternehmerisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. „In der Türkei werden Flughäfen in drei Jahren gebaut. Hier schaffen wir es nicht, ein Umspannwerk in sieben Jahren zu ertüchtigen. Das ist ein Armutszeugnis für unsere Infrastrukturplanung.“

Die Stolpersteine: Bürokratie, Priorisierung, Verantwortung

Die Stimmen aus Handel, Energiewirtschaft und Mittelstand ergeben ein klares Bild: Nicht fehlendes Kapital, sondern fehlender Koordinations- und Reformwille lähmt den Fortschritt.

Zu viele Behörden laufen nebeneinander her. Netzbetreiber agieren intransparent und regional uneinheitlich. Anschlussverfahren dauern Monate oder Jahre. Für viele Betroffene ist das mehr als ein Ärgernis – es ist ein Wettbewerbsnachteil. Lohe spricht von einem Gefühl des „Zuschauens beim Autounfall“: Alle wüssten, was zu tun sei, aber niemand greife ein.

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Lösungen liegen auf dem Tisch

Dabei sind sich die Akteure in vielen Punkten einig. Die Verbände fordern:

Verbindliche Fristen für Anschlussentscheidungen und klar definierte Meilensteine.

Standardisierte digitale Prozesse statt regionaler Sonderwege.

Transparente Daten über Netzkapazitäten, um Planungssicherheit zu schaffen.

Verstetigung des Branchendialogs zwischen Wirtschaft, Netzbetreibern und Politik.

Faire Priorisierung von Anschlusskapazitäten, um Klimaschutzprojekte und industrielle Transformation gleichberechtigt zu behandeln.

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Busch bringt es auf den Punkt: „Wenn Digitalisierung und Netztransparenz richtig zusammenspielen, gewinnen alle – Wirtschaft, Betreiber und Klima.“ Doch dazu müsse die Bundesregierung jetzt liefern. Nach dem Netzanschlussgipfel 2024 sei nichts passiert. Es brauche politische Koordination – und eine klare Aufsicht über die Netzbetreiber, um Effizienz statt Abschottung zu belohnen.

Ein gemeinsamer Appell

Die 13 Verbände, die den Appell unterzeichnet haben – vom BEE über den HDE bis zum ZVEI –, sehen sich als Partner, nicht als Gegner der Netzbetreiber. Aber die Zeit drängt. Die Energiewende werde nur gelingen, wenn Stromnetze nicht länger als Nadelöhr fungieren.

Oder, wie Sarah Bäumchen es formuliert:
„Die Zukunft der Energiewende entscheidet sich nicht auf den Dächern oder an den Windrädern, sondern in den Leitungen dazwischen. Wenn wir die nicht ertüchtigen, bleibt die ganze Transformation ein theoretisches Konstrukt.“

Deutschland steht vor einem gewaltigen Umbau seiner Strominfrastruktur. Die Pläne, Ideen und Technologien sind vorhanden – nur der Durchfluss stockt. Es ist an Politik und Netzbetreibern, den Schalter endlich umzulegen.