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Energiesystemwende

Überraschung: Dezentral - das gab's schon mal

Philipp Blechinger

Die USA sind derzeit nicht für progressive Energiepolitik bekannt. Dennoch kommt von dort ein immer lauterer Ruf nach einem dezentralen Energieversorgungssystem mit hohem Anteil erneuerbarer Energien. Waldbrände in Kalifornien zeigten Ende 2019 die Anfälligkeit zentraler Systeme für externe Störungen – oder auch für mangelnde Pflege und Wartung. Ganze Regionen wurden über Tage hinweg von der Stromversorgung abgeschnitten.

Dezentrale Energieversorgung ist kein neues Konzept

Energieversorgung in dezentralen Energiezellen zu organisieren ist dabei nichts Neues. Die ersten Energieversorgungseinheiten waren auf Dieselgeneratoren basierende kommunale Netze und Mini-Grids zur Beleuchtung von Häusern oder Straßenzügen oder zum Betreiben von Maschinen.

Später folgte dann der Aufbau von Übertragungsnetzen, der eine räumliche Entkopplung von Erzeugung und Verbrauch bewirkte. Hieraus entwickelte sich die konventionelle Versorgungsinfrastruktur: Stromfluss per Einbahnstraße von Großkraftwerken über die Netze zu den Verbraucher*innen. Die Energieerzeugung durch regelbare thermische Kraftwerke folgt dem erwarteten Verbrauch.

Gesteigerte Komplexität und dezentrale Erzeugung

Dezentrale Energiesysteme mit Erneuerbaren führen zu einer Aufweichung beziehungsweise Umkehr des stark hierarchischen, konventionellen Systems. Mit mehr als 1,6 Millionen einzelnen Anlagen hat in Deutschland insbesondere die Photovoltaik für eine enorme Komplexitätssteigerung des Energiesystems gesorgt. Einfache Regelungen der konventionellen Kraftwerke sowie etablierte Vorhersagealgorithmen funktionieren nicht mehr.

Um noch in das bestehende System aus vorwiegend ein-direktionalen Übertragungs- und Verteilnetzen zu passen, müssen Verbrauch und Erzeugung zunehmend lokal zusammengeführt werden. Marktmechanismen stoßen aber durch die enorme Anzahl an dezentralen (Klein-)Anlagen und fluktuierende erneuerbare Energien an ihre Grenzen.

Energiezellen als neue Versorgungseinheiten

Als Reaktion auf diese Herausforderungen muss daher das Energiesystem neu gedacht werden. Dezentrale Energiezellen, die ursprüngliche Form der Versorgung, werden wieder benötigt. Anders als zu Beginn der Energieversorgung bleiben diese natürlich nicht isoliert: Sie werden über das zentrale System verknüpft, um untereinander zu kommunizieren und Energieflüsse austauschen zu können.

Eine aus miteinander verbundenen Energiezellen geplante Netzstruktur ermöglicht die Optimierung auf lokaler Ebene mit deutlich geringerer Komplexität als im Gesamtsystem. Verbraucher*innen, Erzeuger*innen und sogenannte Prosumer können – im Zusammenspiel mit Flexibilitätsoptionen wie Speichern, regelbaren Erzeugern und verschiebbaren Lasten – in einem kleinen Energiemarkt innerhalb der Zelle miteinander handeln.

Netzausbau als Hemmschuh der Energiewende

Die aktuellen Ausbauziele der deutschen Bundesregierung für 2030 beinhalten den Ausbau erneuerbarer Energien auf 65 Prozent der Gesamtstromversorgung. Dies soll unter der Voraussetzung der Aufnahmefähigkeit der Netze erreicht werden. Ein erfolgreicher Netzausbau wird damit zur zentralen Bedingung.

Das politische und gesellschaftliche Spannungsfeld, in dem sich die Netzausbauplanung bewegt, bremst entsprechend die Umsetzung der Energiewende. Daher sollten Energiewendekonzepte in den Fokus der Forschung gerückt werden, welche nicht oder nur teilweise einen großflächigen Netzausbau im zentralen System bedingen.

Energiezellen können Barrieren der Energiewende überwinden

Energiezellen als aktive Teilsysteme eines übergeordneten Gesamtenergieversorgungssystems können die Integration von erneuerbaren Energien deutlich erleichtern und den Netzausbaubedarf unter Umständen erheblich reduzieren. Lokale Energiezellen bieten die Möglichkeit einer verbesserten Partizipation sowie Steuerungsmöglichkeit durch Bürger*innen.

Dezentrale erneuerbare Energiezellen können darüber hinaus nicht nur die Resilienz des Energiesystems stärken, sondern auch die Auswirkungen des Klimawandels mindern, wenn sie fossile Erzeugung ersetzen.

Dieser Beitrag ist Teil einer Kolumne der Reiner Lemoine Stiftung zur EnergieSystemWende. Darin kommen regelmäßig Autorinnen und Autoren zu Wort, die für die Reiner Lemoine Stiftung (RLS) sowie das Reiner Lemoine Institut (RLI) aktiv sind oder gemeinsam mit RLS und RLI an Projekten zur Transition des Energiesystems arbeiten.

Philipp Blechinger ist Bereichsleiter Off-Grid Systems am Reiner Lemoine Institut und Leiter des Graduiertenkollegs der Reiner Lemoine Stiftung.

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