Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Taugt der Koalitionsvertrag zum Aufbruch ins Erneuerbare Energiesystem?

Für die nächste Legislaturperiode haben SPD, Grüne und FDP sich entschieden, gemeinsam eine Regierung zu bilden. Die Leitplanken ihrer Politik und zentrale Vorhaben haben sie im Koalitionsvertrag festgehalten. Der Koalitionsvertrag wurde am 24.11.2021 veröffentlicht. Die Themen Energie und Klima haben eine sehr große Bedeutung in diesem Dokument und ziehen sich durch viele Kapitel. Der Begriff „Klima“ wird insgesamt 197-mal genannt. „Energie“ wird 105-mal genannt. Die folgende Bewertung dient nicht einem Abgleich, ob die Klimaziele erreicht werden können. Auch kann hier nicht bewertet werden, ob die Ausbauziele für Erneuerbare erreicht werden können. Vielmehr wird aufgezeigt, welchen Stellenwert die Transformation des Energiesystems für die Ampelregierung hat. Denn nach unserer Auffassung liegt darin die Voraussetzung, um die Klimaziele überhaupt erreichen zu können.

1. Vision Erneuerbares Energiesystem 

Ein neues energiepolitisches Projekt starten. Der Koalitionsvertrag setzt ein klares Bekenntnis für den Ausbau der Erneuerbaren Energien. „Chancen für die Modernisierung unseres Landes“ werden betont. Zwar wird das Narrativ des „Erneuerbare Energiesystems“ nicht explizit genutzt, wohl aber wird das „Energiesystem der Zukunft“ ins Visier genommen. Am „Klimaneutrale Stromsystem“ soll im Zuge des Ausbaus der Erneuerbaren Energien gearbeitet werden. Die präsentierte Vision setzt jedoch Akzente in eine andere Richtung: Die „sozial ökologische Marktwirtschaft“ und ein Regelwerk sollen für „Innovationen und Maßnahmen“ sorgen, um Deutschland auf den 1,5- Grad-Pfad zu bringen. Der Koalitionsvertrag lässt erkennen, dass ein neues energiepolitisches Projekt in Richtung Erneuerbares Energiesystem gestartet werden soll.

2. Handlungsfähige Institutionen

Wandel managen, Innovationsfähigkeit sicherstellen. Die Energie- und Klimafragen bekommen durch den geplanten Zuschnitt der Ministerien ein neues Gewicht. Die Betitelung des Ministeriums für „Wirtschaft und Klimaschutz“ geht in diese Richtung. Allerdings beliebt der Koalitionsvertrag eine Antwort schuldig, wie und ob Bundesbehörden im Energiebereich reformiert werden sollen, um die Transformation auch institutionell zu gestalten. Fazit: „gelbe Bewertung“ mit Tendenz zu „Rot“.

3. Zeitgemäße Grundsätze

Teilhabe und Akzeptanz im energiepolitischen Zielviereck verankern. Im Koalitionsvertrag wird nicht explizit auf ein energiepolitisches Zielviereck eingegangen. Zwar erhalten Akzeptanz, soziale Teilhabe und Fragen der Gerechtigkeit eine hohe Priorität in der politischen Zielsetzung, was sich auch in einzelnen Maßnahmen widerspiegelt. So sollen Kommunen besser beteiligt werden, die Bürger*innenenergie gestärkt und die Teilhabe vereinfacht werden, auch um die „Menschen mitzunehmen“. Eine entscheidende Priorität wird aber nicht erkennbar. . Koalitionsvertrag der Ampelregierung – Aufbruch ins Erneuerbare Energiesystem?

4. Prozessuale Teilhabe

Mitwirkung an Energieprojekten und Energiepolitik ermöglichen. Die neue Bundesregierung bekennt sich im Koalitionsvertrag zu „Dialogformaten“ und neuen Mitwirkungsformen der Bevölkerung. Sie will Formate der prozessualen Teilhabe stärken und „neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen“.

5. Umdenken und Umlenken

Die Verkehrswende zur Mobilitätswende machen. Der Koalitionsvertrag adressiert wichtige Handlungsnotwendigkeiten im Verkehrsbereich mit dem Anspruch, einen „Aufbruch in der Mobilitätspolitik“ zu starten. Die vorgelegten Ansätze haben das Potenzial ein umfassendes Gesamtkonzept zur Mobilitätswende zu entwickeln. Hervorzuheben sind dabei insbesondere die Überprüfung des Bundesverkehrswegeplans sowie geplante Besserstellung des Schienenverkehrs oder Investitionen in die Radverkehrsinfrastruktur. Allerdings fehlen Aspekte wie die Pendlerpauschale, Tempolimit oder eine Fahrradförderung.

6. Gewinnbringende Sektorenintegration

Flexibilitätspotenziale verstärkt nutzen. Explizit spricht die Vereinbarung die Dekarbonisierungsbedarfe in den verschiedenen Sektoren an. Zudem soll eine Reform der Finanzierungsarchitektur des Energiesystems zukünftig die Sektorenkopplung besser ermöglichen. Sehr konkret werden einzelne Maßnahmen zur stärkeren Nutzung der Flexibilitätspotenziale nicht beschrieben. Es findet sich aber ein Bekenntnis zum bidirektionalen Laden und „transparenten Strompreisen“ sowie ein Prüfauftrag für „wettbewerbliche und technologieoffene Kapazitätsmechanismen und Flexibilitäten“. Für mehr Klimaschutz im Gebäudebereich sollen Erneuerbarer Energie im Gebäude und Quartierslösungen bessere Konditionen erlangen.

7. Flexibler Strommarkt

(Dezentrale) Anreize zum Ausgleich von Nachfrage und Angebot setzen. Der Aufbau eines flexiblen Strommarkts – von der lokalen bis zur europäischen Ebene – ist auf dem Weg ins Erneuerbare Energiesystem unvermeidlich. Dafür braucht es tiefgreifende Reformen des Marktdesigns. Dazu gehören auch die eindeutige Abkehr vom Kupferplatten-Ideal sowie die Anerkennung der Existenz von Engpässen im Stromsystem. Der Koalitionsvertrag streift diese Themen nur. Er eröffnet zwar neue Wege – etwa indem Regionalstrom ermöglicht werden soll oder weitere Reformen für Mieterstrom und Quartiersansätze angestrebt werden. Auch will man beispielsweise auf „verbrauchsnahe Onshore-Windenergie“ setzen. Insgesamt bleiben die Zielsetzungen hier wenig ambitioniert. Die Rolle von Prosuming oder Vor-Ort-Versorgung finden keine Erwähnung. Ein Gesamtkonzept wird nicht erkennbar, sondern bis 2022 soll ein Stakeholder-Dialog in Form einer Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ konkrete Vorschläge erarbeiten.

8. Vierte Säule

 Verschiedene Speichertechnologien etablieren. Die Verhandelnden lassen keinen Zweifel daran, dass sie die Bedeutung der Speichertechnologien anerkennen: „Wir werden Speicher als eigenständige Säule des Energiesystems rechtlich definieren.“ Die Bedeutung des Wasserstoffs wird zwar überbetont, aber sie bekennen sich zu einem ambitionierten Ausbau verschiedener Speichertechnologien.

9. Mehr Bürger*innenenergie 

Neue Marktakteure stärken. Der Koalitionsvertrag sieht explizit vor, die Bürger*innenenergie „als wichtiges Element für mehr Akzeptanz“ zu stärken. So werden konkrete Maßnahmen genannt: Die Rahmenbedingungen für die Bürgerenergie sollen verbessert werden und man will Geschäftsmodelle wie das Energy Sharing ermöglichen. Risiken von Bürgerenergie-Projektierern sollen abgesichert. Zudem sollen diese Akteure und explizit auch Dachbesitzer*innen vom Abbau von Hemmnissen profitieren.

10. Klare Ausstiegsszenarien 

Ende fossiler Technologien in allen Sektoren einleiten. Im Koalitionsvertrag wird das Ende fossiler Technologien klar als Ziel benannt und der „Weg zur CO2-neutralen Welt als große Chance für den Industriestandort Deutschland“ bezeichnet. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung soll „idealerweise“ bis 2030 vorgezogen werden. Auch aus dem Verbrennungsmotor soll ausgestiegen werden, eine klare Zielmarke fehlt aber. Für Betreiber von Kraftwerken oder Gasleitungen sollen Lösungen gefunden werden, den „Betrieb über das Jahr 2045 hinaus nur mit nicht-fossilen Brennstoffen“ fortzusetzen, welche dies sind, bleibt zunächst offen.

11. Ambitionierte Ausbauziele 

Erneuerbare Elektrifizierung zielgerichtet steuern. 200 Gigawatt Photovoltaik bis 2030 und die Ausweisung von zwei Prozent der Landesflächen für die Windenergie an Land werden angestrebt. Bis 2030 sollen 80% des Stroms erneuerbar sein. Erneuerbare werden ferner als „Öffentliches Interesse“ und der Versorgungssicherheit dienend definiert. Von einer „gemeinsamen Mission, den Ausbau der Erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen“ ist die Rede.

Fazit: Was können wir von der neuen Regierung erwarten?

Die sich neu formierende Ampel-Koalition tritt mit dem Anspruch an, „mehr Fortschritt zu wagen“. Mit dem vorgelegten Koalitionsvertrag legt sie die Leitplanken für ihre Vorhaben in der kommenden Legislaturperiode. Damit setzt sie auch für die Energie- und Klimapolitik neue Maßstäbe.

Zwar verpassen es die Koalitionäre, den „Aufbruch ins Erneuerbare Energiesystem“ explizit auszurufen. Stattdessen setzen sie eher auf das Narrativ der Klimaneutralität, der sozial ökologische Marktwirtschaft und des Beschleunigten Ausbaus Erneuerbarer Energien“. Unterm Strich wird aber deutlich, dass die Herausforderungen eines sich wandelnden Energiesystems von den beteiligten Parteien erkannt werden. Und viele der angekündigten Maßnahmen und Prüfaufträge leiten sich aus den neuen Herausforderungen ab.

TIPP: Mit unserem kostenlosen Newsletter halten wir  Sie über die energiepolitischen Entwicklungen auf dem Laufenden. Hier können Sie ihn abonnieren. 

Vergleicht man die formulierten Zielsetzungen mit jenen aus den Wahlprogrammen, so wird eine grüne Handschrift deutlich erkennbar. Während die SPD im Wahlprogramm in Energiefragen meist vage geblieben war und die FDP durchaus auch konträre Positionen bezogen hatte, können die Grünen sich in den betrachteten Punkten durchsetzen. Einige Punkte wie etwa konsequente Ausstiegsszenarien wurden jedoch abgeschwächt.

Positiv ist in Hinblick auf die nötigen Weichenstellungen in Richtung eines Erneuerbaren Energiesystems hervorzuheben, dass ein chancenbetonter Ton angeschlagen wird und viele Hemmnisse der Vergangenheit ausgeräumt werden sollen. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien soll entfesselt werden. Dabei werden auch beispielsweise die Rolle der Bürgerenergie oder der Speicher berücksichtigt und klare und ambitionierte Ziele benannt.

Unklar bleibt die Positionierung der neuen Regierung hingegen im Bereich der Rolle der Institutionen und deren Reformbedarfen sowie in Hinblick auf überzeugende Konzepte für sektorübergreifende Flexibilitätsmärkte und sowie eine dezentrale Kopplung von Erzeugung und Verbrauch. Auch bei den Ausstiegszenarien und im Mobilitätsbereich wären ambitioniertere Ansätze möglich gewesen.

Kritisch ist in Hinblick auf die Klimaziele gleichwohl anzumerken, dass ein Großteil der nötigen Dekarbonisierung vor allem im Wärme- und Verkehrssektor für die Zeit von 2030 bis 2045 geplant wird. Deutlich wird dies z.B. mit Blick auf den im Sinne der Klimakrise recht niedrigen, anvisierten Bruttostromverbrauch von 680 bis 750 TWh in 2030. Hier bedarf es einer weiteren Beschleunigung. Dahingehender Druck von der Straße oder weitere Klimaklagen sind daher nicht auszuschließen. Gleichwohl ist die Erreichbarkeit der Klimaziele nicht Teil der vorliegenden Bewertung.

Taugt der Koalitionsvertrag also zum Aufbruch ins Erneuerbare Energiesystem? Mit einigen Ausnahmen, ja. Gegenüber der Programmatik der letzten Bundesregierung setzen die Ampel-Koalitionäre ein klares Signal, dass sie ins Zeitalter der Erneuerbaren Energien einsteigen wollen. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass dies auch eine Transformation des Energiesystems erforderlich macht – und diese angegangen werden soll. An einigen Punkten bleiben sie aber noch zu vage. Hier muss die reelle Politik dann zeigen, ob die Vorhaben ausreichend sind.

An der Umsetzung und weiteren Gestaltung dieser – durchaus ambitionierten – energiepolitischen Agenda wird sich die neue Regierung nun messen lassen müssen. Die Weichen in Richtung Erneuerbares Energiesystem sind zumindest in einigen wesentlichen Punkten und auf dem Papier gestellt worden. Ob aus diesem Umlenken auch ein Aufbruch für eine konsequente Gestaltung des Erneuerbaren Energiesystems wird, werden die kommenden vier Jahre zeigen. Für die Erreichung der Pariser Klimaziele reichen die Ambitionen jedoch vermutlich nicht aus. (nw)

Analyse des Graduiertenkollegs EnergieSystemWende am Reiner Lemoine Institut.